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​LESEPROBE 

Die Tränen der Waidami

Prolog

 

Die alte Frau starrte auf die Wellen, die sanft an den Strand rollten, den feinkörnigen Sand überschwemmten, um sich augenblicklich wieder davon zurückzuziehen, doch nicht, ohne etwas von sich zurückgelassen zu haben. Dort wo sich das Wasser von seiner Hinterlassenschaft trennte, färbte sich der Sand dunkel und klumpte zusammen.

Merka ging in die Knie und presste ihre beiden Hände flach ausgebreitet in die kühle Feuchtigkeit. So verharrte sie für einige Atemzüge. Dann richtete sie sich schwerfällig wieder auf und betrachtete mit zusammengezogenen Augenbrauen ihre Abdrücke. Nur zögernd füllten sich die Vertiefungen mit neuen Wellen, wuschen sich aus und verschwanden, als hätten sie niemals existiert. Doch etwas hatte sich verändert. Für das menschliche Auge war es unsichtbar, aber die Ordnung der Sandkörner war durcheinandergeraten und veränderte damit den ganzen Strand und hatte Folgen für die ganze Insel. Unauffällig zwar, aber nichts würde wieder jemals so sein wie zuvor. Merka stand nun ganz auf, ihre Augen fest auf das Meer gerichtet. Die Sandkörner waren so verschieden wie die Visionen der Seher. Und genau wie der kleine Abdruck ihrer Hand das natürliche Gefüge ins Rutschen brachte, hatte der kleine Betrug an einer Vision die Schicksale vieler Menschen durcheinandergebracht.

Ein tiefes Grummeln stieg aus dem Inneren der Insel, und Merka sah besorgt über ihre Schulter zu dem Vulkankegel, der majestätisch die Insel überragte. Doch alles war ruhig, und er blickte so unschuldig auf sie herab, so wie er es tat, seitdem er mit seinem heißen Atem diese Insel geschaffen hatte. Er hatte all dies Leben hier erst möglich gemacht, und er war es auch, der nun unauffällig, aber bestimmt, darauf hinzuweisen begann, dass er es genauso gut auch wieder zerstören konnte.

Merka verbeugte sich tief vor dem Vulkan und murmelte eine Beschwörung an die Göttin Thethepel, wohl wissend, dass diese sie nicht erhören konnte, und lief mit eiligen Schritten zurück ins Dorf.

 

Nach der Schlacht

 

Das Meer glich einer dunklen undefinierbaren Masse, die nichts von dem verriet, was sich unter ihrer düsteren Oberfläche abspielte. Darüber erhob sich eine orangerote Sonne. Ihre Strahlen fächerten dabei wie Pfeilspitzen auseinander, als wollten sie ihr in den wolkendurchzogenen Himmel vorauseilen und die Richtung weisen.

Jess stand an der Reling auf der Backbordseite der Monsoon Treasure und betrachtete das farbenprächtige Spektakel. Langsam verwandelte sich das Meer, verlor die Dunkelheit und präsentierte sich in einem lebendigen Spiel aus Grün und Blau. Ein idyllisches Bild, wären da nicht die Wrackteile gewesen, die auf den Wellen trieben und von der Schlacht erzählten, die hier gestern noch stattgefunden hatte. Ein Segel hing zerfetzt an einem treibenden Mast und wirkte wie der gebrochene Flügel eines übergroßen Seevogels. Einige der spanischen Schiffe waren ebenfalls wie die Treasure geblieben und hatten beinahe die ganze Nacht hindurch nach Überlebenden gesucht. Die Ausbeute war nicht besonders groß gewesen. Selbst von den auf dem Riff aufgelaufenen Schiffen hatten nur wenige Männer gerettet werden können.

Tief atmete Jess die Seeluft ein, als wäre es etwas völlig Neues für ihn. Seine Hände hielt er dabei auf dem Rücken verschränkt. In der Schlacht war alles so schnell gegangen. Jess hatte das Schiff übernommen und mit Hilfe der Monsoon Treasure die Lücke in dem Riff gefunden. Nur so konnten sich die schwächeren Schiffe der Silberflotte auf die andere Seite des Riffs in Sicherheit bringen. Danach hatte er sich in die Schlacht gestürzt. Die überlebenden Waidami hatten schließlich mit ihren Schiffen wie die Hasen das Weite gesucht und seine alte Crew war wieder auf die Monsoon Treasure gewechselt. Lediglich Cale und Jintel waren mit einigen Schiffen nach Bocca del Torres aufgebrochen, um dort die versprochene Entlohnung für Tirado zu holen. Jess seufzte und dachte an Lanea, die jetzt friedlich in seiner Koje lag und schlief. Ein warmer Schauer sickerte in seine Brust und füllte sie zur Gänze. Er hatte tatsächlich keinen Gedanken mehr an die Treasure verschwendet, nachdem er sich mit Lanea zurückgezogen hatte.

Doch dieser Moment gehörte jetzt ihr. Jess löste die Hände von seinem Rücken und legte die rechte flach auf die Tätowierung. Äußerlich sah sie aus, als wäre sie nie aus ihm herausgeschnitten worden; als wäre sie nie fort gewesen. Doch unter die Oberfläche der feinen Linien fraß sich ein seltsamer Schmerz, der sich wie ein schleichendes Gift seinen Weg unter seine Haut bahnte. Der Schmerz nach der ersten Tätowierung war noch lebhaft in seiner Erinnerung. Es hatte beständig gebrannt, wie ein unsichtbar schwelendes Feuer. Er hatte sich schnell daran gewöhnt und es später gar nicht mehr wahrgenommen. Dies hier war anders. Statt der Hitze legte eine ungewohnte Kälte eine Spur über seine linke Brust. Aber vielleicht war dies so bei einer neuerlichen Tätowierung. Auch daran würde er sich gewöhnen. Jess atmete erneut ein und umschloss mit einer zärtlichen Geste das glatte Holz der Reling. Die Monsoon Treasure stürzte sich wie mit der überschwänglichen Umarmung einer Frau auf ihn und riss ihn mit sich. Überrascht von der Intensität dieser Begegnung schnappte Jess nach Luft, griff fester zu und hielt sich fest. Bilder und Empfindungen aus der Zeit mit McDermott schlugen wie Wellen über ihm zusammen, die ihm die Monsoon Treasure gestern unter der ersten Berührung vorenthalten hatte. Die Treasure hatte unter der Verbindung mit McDermott gelitten, fühlte sich als Verräterin und bat um Vergebung. Jess ließ sich fallen, folgte jeder einzelnen Geschichte, folgte jedem Schmerz und der Trauer seines Schiffes, als sie ihn verloren hatte. Nach einer Weile wurde sie ruhiger und nahm ihn mit sich in die Tiefe. Gemeinsam trieben sie dahin, sanken bis auf den Grund der See und fanden ihren Frieden.

Irgendwann lockerte Jess den Griff und ließ dann ganz los. Er war zurück. Die Monsoon Treasure gehörte wieder ihm, und die Waidami waren zumindest für dieses eine Mal geschlagen. Er war frei. Die Wände um ihn herum, die ihn seit der Trennung von den Strömungen seiner Umgebung ausgeschlossen hatten, waren gefallen.

Dennoch schmeckte der Gedanke an seine Freiheit bitter. Es hatte viel gekostet, um bis hierhin zu gelangen. Menschen waren gestorben, um ihm zu helfen oder weil sie ihm hätten helfen können. Der nächste Atemzug war tief und voll Trauer bei dem Gedanken an Hong. Der Chinese war mehr als sein Koch und Arzt hier an Bord gewesen, mehr als ein Freund. Es war das erste Mal, dass Jess den Gedanken an ihn zuließ und den Schmerz ertrug. Hong hatte verhindert, dass aus Jess Morgan ein seelenloses Monster wurde. Er war es gewesen, der ihm von seinem ersten Tag an Bord immer wieder gezeigt hatte, wie wichtig es war, seine Menschlichkeit zu bewahren, gleich, was das Schicksal für einen Mann bereithielt. Ihm war es gelungen, den maßlosen Zorn, den Jess als junger Kapitän der Waidami empfunden hatte, zu zähmen. Eine Welle hilfloser Wut überrollte ihn. Jess ballte die Hände zu Fäusten, bis seine Knöchel weiß hervortraten. Torek würde dafür bezahlen. Das war ein Versprechen an Torek und sich selbst. Und damit der unausgesprochene Beweis, dass seine Freiheit nur fadenscheinig war und nur von vorübergehender Natur sein konnte. Der Feind hatte eine Niederlage erlitten, nicht mehr. Bairani und Torek lebten noch und schmiedeten höchstwahrscheinlich längst neue Pläne. Nachdenklich glitt sein Blick über die Backbordseite der Treasure bis zum Bug. Der Anblick war vertraut, genau wie die Männer, die ihre Arbeit verrichteten, als wäre es nie anders gewesen. Als hätten sie nicht monatelang um ihren Captain fürchten müssen. McPherson, sein Schiffszimmermann, kam mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck auf ihn zu. Sein Schritt wirkte trotz des Holzbeines beschwingt. In seinem Schlepptau befand sich Kadmi, der sich jedoch unter den Niedergang verzog. Jess öffnete sich für die Strömungen seiner Crew. Die Männer wirkten angekommen, zufrieden. Jeder Einzelne von ihnen war erfüllt von dem Gefühl, wieder komplett zu sein. Der Pirat empfand tiefe Zuneigung für diese Männer, die ihm so unerschütterlich die Treue gehalten hatten.

Sie hatten sich dafür mehr als nur eine Zeit der Ruhe verdient. Ihr Kurs würde sie zunächst nach Cartagena führen. Cale und Jintel sollten ein bis zwei Tage nach ihnen dort ankommen. Sobald die Mannschaft komplett war, würden sie nach Hause segeln. Bocca del Torres wartete. Zumindest für eine Weile sollten sie sich dorthin zurückziehen.

»Captain!« McPherson blieb mit dem breiten Grinsen eines beschenkten Kindes vor ihm stehen. Das Wort betonte er, als sei es eine kostbare Gabe. »Du hast nicht die geringste Ahnung, wie sehr ich mich freue, dich hier auf diesen Planken wieder vor mir zu sehen.«

Jess lächelte unwillkürlich. Der untersetzte, aber kräftige McPherson war der älteste Mann an Bord. Sein Gesicht war gezeichnet von Wind und Wetter. Falten und Narben erzählten von den langen und harten Jahren auf See. Wenn er auch wegen seines Holzbeines nicht mehr zum Kampf taugte, war er doch der beste Schiffszimmermann, den man sich nur denken konnte. Unzählige Male hatte er die Treasure auch unter widrigsten Umständen zusammengeflickt und damit auch das Wohlergehen von Jess selbst gewährleistet.

»Ich freue mich auch, McPherson.« Dankbar klopfte er dem Älteren auf die Schultern. »Schön, dass ich dich wieder hier als Zimmermann habe. Ich kenne niemanden, dem ich sonst diese Arbeit anvertrauen wollte.«

Das Grinsen seines Gegenübers wurde noch breiter, soweit dies noch möglich war. Mit stolzgeschwellter Brust richtete er sich auf. »Deshalb habe ich unsere Lady auch bereits bis in die letzten Spanten untersucht. Außer einigen kleinen Schäden hat sie nichts abbekommen, aber das wusstest du natürlich bereits.«

»Und ich weiß auch, dass du diese Schäden noch im Licht der Laternen in der Nacht repariert hast.« Noch bevor Jess Schlaf gefunden hatte, hatten sich die leichten Verletzungen, die er davongetragen hatte, geschlossen und waren verheilt.

»Ich hoffe, es hat euch - ähem - dich nicht allzu sehr gestört.« Das wettergegerbte Gesicht verzog sich mit einer leisen Spur Schamhaftigkeit. Jess konnte sich das Schmunzeln nicht verkneifen. Kaum zu glauben, wie empfindlich diese Kerle doch immer wieder sein konnten. Angesichts ihrer Taten der vergangenen Jahre, wirkte es beinahe lächerlich, bewies aber auch ihre Menschlichkeit.

»Du hast nur deine Pflicht getan«, entgegnete er daher nur. So wie jeder Mann seiner Crew. »Und darüber hinaus. Ich bin euch allen zu tiefstem Dank verpflichtet. Ohne euer Zutun stände ich jetzt nicht hier.«

McPherson räusperte sich verlegen und schüttelte dann entschieden den Kopf.

»Wenn ich dich daran erinnern darf, dass ich bereits einige Jahre in einer Grube auf irgendeiner Insel verfaulen würde, wenn du mir nicht das Leben gerettet hättest.«

»Das ist lange her.«

»Und nicht vergessen. - Du schuldest uns nichts.«

Jess verschlugen die entschlossenen Worte die Sprache. Er wusste nicht, was er noch darauf erwidern sollte. Spürte er doch die ehrliche Dankbarkeit und Hingabe von McPherson so deutlich, als könnte er sie als Gewichte in eine Waagschale legen. Gerührt legte er ihm die Hand auf die Schulter. »Ich schulde dir wenigstens eine Mütze voll Schlaf, alter Freund. Während die meisten von uns die Zeit hatten, sich in der Nacht auszuruhen, hast du gearbeitet. Schlaf dich aus, solange du willst. - Wer hat dir bei den Arbeiten geholfen?«

»Kadmi, Sam und Bill, Captain.«

Gut! Sie sollen sich ebenfalls in ihre Hängematten verholen. Ich will keinen von ihnen an Deck sehen, bis sie sich ausgeschlafen haben.«

»Aye, Sir!« McPherson wandte sich zum Gehen, hielt dann aber doch inne.

»Ich habe da noch eine Bitte, Captain.«

»Was kann ich für dich tun?«

»Kadmi, Sir. Er ist wirklich sehr gelehrig, was das Zimmererhandwerk angeht. Der Junge hat da mehr in seinem Schädel als die anderen Kerle und zwei wirklich geschickte Hände. Vielleicht wäre es gut, wenn ich ihm alles beibringe, was man als Schiffszimmermann wissen muss.«

Jess lächelte unwillkürlich, als er an den Jüngsten der Crew dachte. Deshalb hatte der Junge sich gerade verdrückt und versprühte eine angespannte Strömung wie ein Skunk seinen Urin.

»Du meinst also, er hat das Zeug dazu?«

»Ich wüsste keinen Besseren, Captain.«

»Gut, dann gib Jintel bei seiner Rückkehr Bescheid, dass er Kadmi von seinen Pflichten freistellt. Und frag N’toka, ob er unter den Männern eine andere Hilfe findet. Sonst muss der Junge ihm weiterhin bei den Mahlzeiten behilflich sein.«

»Danke, Captain!«

»Und jetzt ab in die Koje, Mann.«

»Aye, aye, Sir!«

Jess sah McPherson hinterher, wie er unter dem Niedergang verschwand und kurz darauf die überschlagende Freude Kadmis darunter hervorspritzte. Er lächelte bitter. Für seine Männer schien der Kampf gegen die Waidami genau hier zu Ende zu sein.

Ihr Captain wusste es besser.

 

*

 

Der Oberste Seher stand auf dem kleinen Felsenplateau, das unterhalb des Vulkankraters aus den Höhlen führte. Von hier hatte er einen hervorragenden Überblick über die Insel und das Meer. Weit unter ihm lagen das Dorf und die Bucht, in der sich einige neue große Segler aufhielten. Doch seine Aufmerksamkeit galt den kleinen Flecken am Horizont, die sich langsam der Insel näherten. Auch ohne eines dieser Fernrohre wusste Bairani, wer dort kam. Es war der Rest der entsandten Schiffe, die unter der Führung von Captain McDermott aufgebrochen waren, um die spanische Silberflotte zu stellen.

Für einen kurzen Moment überlegte er, nach Torek rufen zu lassen, damit dieser ihm Genaueres von der Schlacht berichten konnte. Doch er verwarf den Gedanken wieder. Toreks Wissen um die Dinge war mehr als hilfreich, zumal bei ihm selbst die Visionen mit zunehmendem Alter immer schwächer wurden, aber er durfte den Jungen auch nicht unterschätzen. Seine Verschlagenheit und der Genuss der Macht, die er in der letzten Zeit gewonnen hatte, machten ihn zu einem Partner, den man nicht aus den Augen lassen durfte.

Die Flecken am Horizont wurden schnell größer und nahmen Gestalt an. Bairani konnte nun die Schiffe erkennen. Angespannt leckte er sich über die Lippen und kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Die Schiffe waren beschädigt. Eins hatte schwere Schlagseite und schien sich nur noch mühsam über Wasser zu halten. Plötzlich schob sich ein anderes Bild in seinen Kopf. Bairani richtete sich auf und erstarrte. Ein Meer aus weißen Segeln fegte wie eine gewaltige Sturmfront daher. Hinter ihm erwachte der Vulkan und ein kollerndes Geräusch drang aus seinem Schlund wie das drohende Knurren eines angriffslustigen Tieres. Der Oberste Seher taumelte und fiel so plötzlich aus der Vision, wie sie gekommen war.

Hastig warf er einen Blick auf den hinter ihm aufragenden Bergkegel. Alles war völlig ruhig. Keine Rauchsäule hob sich in den azurblauen Himmel, kein Grollen drang heraus. In der Geschichte Waidamis war dieser Berg nur zur Entstehung der Insel ausgebrochen. Seitdem schlief der Riese in aller Friedlichkeit.

Bairani lenkte wieder seinen Blick auf die Segelschiffe. In Ruhe betrachtete er jedes Einzelne davon. Er kannte jedes dieser Schiffe. Er kannte jeden der Kapitäne, denen er in der Verbindungszeremonie mit dem Dolch der Thethepel das Bild ihres Schiffes auf die linke Brusthälfte tätowiert hatte. Jeder dieser Männer war auf besondere Weise an sein Schiff und an Waidami gebunden.

Bei einem war es anders.

Sein Schiff segelte nicht mit den Heimkehrern.

Die Hand des Obersten Sehers glitt an das Amulett um seinen Hals, das warm unter seinen Fingern pulsierte. Ein zufriedenes Lächeln fraß sich auf seine dünnen Lippen.

Die Monsoon Treasure war wie geplant nicht mehr unter ihnen.

 

*

 

Als Lanea das Deck betrat, stand die Sonne bereits hoch am Himmel, wie sie beschämt feststellte. Sie hatte lange noch wach in der Koje gelegen und die Ereignisse des vergangenen Tages in ihren Gedanken wieder und wieder durchgespielt. Es war so unendlich viel geschehen. Die Schlacht, der Kampf um die Monsoon Treasure und nicht zuletzt die Wiederbegegnung mit Jess.

Mit dem Jess, wie sie ihn von ihrer ersten Begegnung in Erinnerung hatte. Stark und entschlossen, nicht der Schatten, den Bairani mit der Trennung von seinem Schiff aus ihm gemacht hatte. Laneas Herz klopfte heftig, als sie daran dachte, wie Jess sich selbst den Dolch der Thethepel in die Brust gerammt hatte.

Lanea wendete den Kopf und entdeckte ihn augenblicklich. Er stand auf dem Achterdeck am Steuer und sah natürlich zu ihr hinüber. Es hätte sie auch gewundert, wenn er nicht bemerkt hätte, dass sie kam. Wieder beschleunigte sich ihr Herzschlag bei seinem Anblick. Seine weizenblonden Haare hatte er wie immer im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden. Der Blick aus seinen eisblauen Augen fuhr direkt in ihren Magen und löste dort ein angenehmes Prickeln aus. Sein Blick glitt fragend zu ihrem linken Bein, das sie immer noch versuchte, beim Gehen zu schonen. Jess hatte zwar in der Nacht den Verband bemerkt, aber sie hatten sich nicht mit vielen Worten aufgehalten. Lanea huschte bei der Erinnerung eine leichte Wärme in die Wangen, die in Flammen aufgingen, als sein Lächeln in ein anzügliches Grinsen überging.

Wie sie es hasste, dass dem Mann, den sie liebte, schlicht nichts verborgen blieb. Jede noch so kleinste Gemütsregung las er von ihr ab, wie aus einem aufgeschlagenen Buch.

Lanea trat an die Reling und sog tief die frische Seeluft ein, um ihre Gedanken und ihr Gemüt wieder abzukühlen. Prüfend betrachtete sie den Stand der Sonne und das Spiel der schaumgekrönten Wellen, die gleichmäßig über das tiefblaue Meer rollten und die Treasure wie eine Eskorte zu ihrem Ziel hin geleiteten. Ein letzter Blick in die Segel bestätigte ihr, dass ihr Kurs sie wie verabredet nach Cartagena führte.

Für einen Moment schloss sie die Augen und genoss die sanften Bewegungen des Schiffes. Es tat so gut wieder hier zu stehen und sich den Wind um die Nase wehen zu lassen. Zu Beginn ihres Abenteuers hätte sie sich niemals träumen lassen, dass sie je so empfinden könnte. Schmunzelnd dachte sie daran zurück, wie entsetzt sie gewesen war, als ihr Vater sie auf die Treasure geschickt hatte. Damals hatte sie sich nicht vorstellen können, unter skrupellosen Piraten zu leben. Jetzt war dieses Schiff ihr Zuhause. Die Piraten nicht so skrupellos, wie sie gedacht hatte, und inzwischen mehr als bloß Freunde. Für nichts auf der Welt hätte sie woanders sein wollen. Das bewies aber auch, dass die Seher sehr wohl wussten, für welche Aufgaben ein Kind geboren wurde. Trotzdem waren sie eine Plage, die dem Volk keine eigenen Entscheidungen überließen, sondern diese mithilfe ihrer Visionen in die gewünschte Richtung lenkten. Der Gedanke an die Seher riss sie aus ihrer friedlichen Stimmung. Lanea öffnete die Augen, um den Niedergang hinauf zu Jess zu gehen, der seinen Blick fest auf den Horizont gerichtet hielt. Seine schöngeschwungenen Lippen umspielte dabei ein leichtes Lächeln.

»Bereit wieder deinen Dienst als Navigatorin der Monsoon Treasure anzutreten?«, fragte er und schenkte ihr einen Blick, der sich direkt in ihren Bauch setzte.

»Aye, Sir!«, entgegnete sie. »Wie ich sehe, haben wir bereits Kurs auf Cartagena gesetzt.«

»Seit dem Morgengrauen«, nickte Jess.

»Konnten noch viele Überlebende geborgen werden?«

Seine Miene wurde ernst. Dann schüttelte er den Kopf.

»Die wenigen, die gerettet werden konnten, werden an Bord der spanischen Schiffe versorgt. Admiral Gonzalez traute uns dergleichen nicht zu.«

»Was hast du erwartet?«, fragte sie und warf einen Blick nach achtern. In einiger Entfernung hinter der Monsoon Treasure folgten die Schiffe der Spanier. »Dass sie dir vertrauen, nur weil du eine einzelne Schlacht mit ihnen geschlagen hast? Sie sind alles gottesfürchtige und rechtschaffene Männer des stolzen Spanien, und du?« Lanea deutete auf die frische Tätowierung der Treasure, die durch das halboffene Hemd deutlich zu sehen war. Unwillkürlich sah sie nach oben in die Segel und dann wieder auf die Brust von Jess. Nur zu gerne hätte sie das Hemd weiter geöffnet, um das Bild besser betrachten zu können. Aber, wenn sie sich nicht irrte, hatten die Segel der Tätowierung exakt den gleichen Stand wie die des Originals. Fasziniert fuhr sie fort:

»Du bist ein Pirat, der irgendeinen gottlosen Bund mit seinem Schiff eingegangen ist.«

»Daran wird sich wohl bis zu meinem Ende auch nichts mehr ändern. Jedenfalls nicht, wenn ich es verhindern kann.«

»Ich hoffe«, sagte sie und verspürte den Wunsch, ihn zu berühren.

Noch während die Sehnsucht in ihr wuchs, löste Jess eine Hand von dem Steuerrad, legte ihr den Arm um die Hüften und zog sie dicht an sich heran.

»Manchmal kann es auch Vorteile haben, wenn ich deine Strömungen lese«, lächelte er und schenkte ihr einen intensiven Blick.

Keiner der Männer an Deck achtete auf sie. Glücklich schmiegte Lanea sich an ihn.

Für eine Weile standen sie schweigend beieinander und genossen die Nähe des anderen. Doch Lanea lag eine Frage auf der Seele, die sie seit dem Ende der Schlacht nicht mehr losließ.

»Was hast du gestern damit gemeint, als du sagtest, dass es nur der Anfang sei?«, brach es nach einiger Zeit aus ihr heraus. Sie hob den Kopf, um seine Reaktion sehen zu können.

Jess löste sich aus der Umarmung und warf ihr einen abschätzenden Blick zu. Mit beiden Händen hielt er wieder das Steuerrad und drehte es ein wenig, um den Kurs zu korrigieren, als die Segel über ihnen zu flattern begannen. Augenblicklich fingen sie den Wind wieder ein und beruhigten sich. Lanea sah über den Bug der Treasure hinaus auf die See und fragte sich, ob Jess auch den Kurs ohne Hilfsmittel bestimmen konnte. Der Bugspriet deutete wie ein Zeigefinger pfeilgenau auf ihr Ziel.

»Bairani wird sich nicht mit einer Niederlage zufriedengeben.«

»Was meinst du, wird er tun?«

Die Kinnlinie von Jess verhärtete sich, als er antwortete: »Bairani hat überraschend viele Schiffe in letzter Zeit bauen lassen. Ich denke nicht, dass das alles war, was wir gestern erlebt haben. Wenn er sein Ziel erreichen will, muss er die anderen Mächte aus der Karibik zunächst vernichten oder vertreiben. Das kann er nur mit einer großen und schlagkräftigen Flotte erreichen.« Er stockte und presste die rechte Hand kurz auf die Tätowierung, bevor er wieder nach dem Ruder griff. »Ich bin mir inzwischen noch nicht einmal sicher, ob die Niederlage nicht sogar beabsichtigt war. Nur komme ich nicht dahinter, was das für einen Grund haben könnte.«

Eine dumpfe Ahnung breitete sich in Lanea bei diesen Worten aus. Hatte sie nicht auch das Gefühl gehabt, dass ihre Flucht mit dem Dolch der Thethepel vielleicht ein bisschen zu einfach gewesen war? Der Stich in ihr Herz, der folgte, verneinte die Frage. Ihr Vater und seine Freunde waren dabei umgekommen. Nein, einfach war es sicher nicht gewesen.

»Wie viel Zeit wird uns bleiben, was meinst du?«

»Wofür? Um die Gewässer zu verlassen? Ich fürchte, wir müssten bereits jetzt Kurs auf die Alte Welt setzen, statt unserem lieben Gouverneur noch einen Besuch abzustatten.«

»Ich dachte mehr daran, wie viel Zeit uns bleibt, um uns auf bevorstehende Kämpfe vorzubereiten.«

Jess wog nachdenklich den Kopf.

»Zu wenig, fürchte ich!«, entgegnete er langsam.

 

*

 

Torek wanderte ohne Ziel über die Insel. Von den Höhlen war er ins Dorf gelaufen, von dort die gesamte Bucht herunter und dann weiter zur Bucht der Schiffsbauer. Eine Weile hatte er dem Hämmern, Sägen und Fluchen der Arbeiter zugehört, bis es ihn rastlos weitergetrieben hatte.

Bairani hatte ihn heute Morgen nicht zu sich rufen lassen, wie er es in letzter Zeit immer getan hatte. Stattdessen hatte ihn der Wächter vor der Höhle des Obersten Sehers regelrecht abgewimmelt. In seinem Kopf wanderte die Frage nach dem Warum genauso ruhelos umher, wie er selbst. Das Gefühl, dass ihm etwas verheimlicht wurde, war stark. Bairanis Verhalten ärgerte ihn. Und er hatte noch nicht einmal die Möglichkeit, sich in seinen Visionen die Antworten zu Bairanis Gebaren zu holen. Er schien etwas vor ihm zu verbergen, und Torek war sich ziemlich sicher, dass es mit Morgan zu tun hatte. Auch wenn er bei dem Obersten Seher keinerlei Skrupel hatte, in seinen Visionen nachzusehen, wagte er diesen Schritt nicht. Bairani vereinigte die Visionen aus so vielen Sichtungszeremonien in sich, dass ein Durchkommen nahezu unmöglich war. Torek würde die Bilder nicht sortieren können, so wie er das bei anderen Sehern inzwischen mühelos tat. Die Angst, dass er sich in der unübersehbaren Flut verlieren konnte, war zu groß. Daher würde er sich auf seinen Instinkt verlassen müssen. Und der sagte ihm, dass ihm der Oberste Seher kein vollständiges Vertrauen schenkte.

Plötzliche Wut flammte in ihm auf und lähmte seinen Schritt. Bairani missbrauchte ihn für seine Zwecke und unterschied sich damit eigentlich nicht von den jungen Männern, die sich immer über ihn lustig gemacht hatten. Vielleicht lachte er ihn nicht aus, aber der Oberste Seher schien zu glauben, dass er Torek wie ein Werkzeug benutzen konnte. Grimmig knurrte der junge Seher vor sich hin. Vielleicht sollte er einmal beweisen, dass dies nicht so einfach war. Heute würden die Schiffe zurückkehren, die die Silberflotte angegriffen hatten. Torek wusste längst, dass die Monsoon Treasure nicht mehr unter ihnen war. Morgan war auf dem Weg nach Cartagena, in dem Glauben, zumindest für eine Weile eine kleine Atempause haben zu können. Ein Lächeln glitt über Toreks Miene. Der Gedanke an den Piraten besänftigte und versöhnte ihn. Mit einem tiefen Atemzug schloss er die Augen und glitt wie von alleine zu Jess Morgan. Er fand ihn auf dem Achterdeck der Monsoon Treasure, die gerade in Cartagena festmachte. Seine Hand lag auf der Tätowierung und fühlte den Schmerzen darin nach. Toreks Lächeln wurde breiter. Zufrieden beobachtete er, wie eine schwarze Kutsche in der Begleitung berittener Soldaten auf die Pier fuhr, als ein knackendes Geräusch ihn aus der Vision riss.

Überrascht erkannte er, dass er vor Durvins alter Hütte stand, nahe des Pfades, der zu den Höhlen führte. Noch weiter abseits des Dorfes lagen nur die Hütten Shamilas und der alten Merka, die direkt am Fuße des Vulkans lagen.

Torek sah unentschlossen den Pfad hinauf, der sich in kleinen Windungen zwischen den Hibiskussträuchern verlor. Er legte den Kopf ein wenig auf die Seite und betrachtete den schlichten Bau, der seit dem Verschwinden des Sehers leer stand. Auf den ersten Blick schien die Hütte noch bewohnbar zu sein. Kritisch musterte er das mit Palmblättern gedeckte Dach, in dem ein großes Loch gähnte wie in seinem Selbstbewusstsein. Er konnte das Loch reparieren lassen und die Hütte beziehen. Er würde seine Unterkunft in den Höhlen verlassen und damit für Bairani vielleicht ein Zeichen setzen können, dass er eigenständige Ansprüche hatte. Unsicher, ob er das wirklich wollte, wandte sich Torek zum Gehen, als ihn erneut ein Geräusch aufblicken ließ. Zwischen den Sträuchern tauchte die gebeugte Gestalt der alten Merka auf. Widerstrebend gestand Torek sich ein, dass diese Frau etwas Unheimliches an sich hatte. Ihre Bewegungen wirkten schwerfällig und steif, wie er es von alten Menschen kannte, doch etwas an Merka war anders. Die Bewegungen wirkten nicht echt. Unermüdlich suchte sie sich ihren Weg den teilweise steilen und unebenen Weg hinunter, der so manch jüngeren Menschen bei einer kleinen Unachtsamkeit zum Straucheln brachte. Doch trotz der von der Müdigkeit des Alters geprägten Ganges suchten sich ihre Füße sicher ihren Weg. Torek konnte nicht widerstehen und konzentrierte sich. Als er nach Bildern von der alten Frau greifen wollte, blieb sie stehen und sah ihn geradeheraus an. Ihre Miene verzog sich dabei zu einem finsteren Lächeln, über das ihre Falten wie ein Meer aus Wellen in Bewegung gerieten. Der Blick war dabei von einer beunruhigenden Klarheit und traf ihn wie ein Warnruf. Torek erstarrte. Wie alt mochte sie sein? Unsicher, weil sie immer noch nicht den Blick wieder abwandte, tastete er vorsichtig nach einer Vision über sie. Doch da war nichts, was greifbar gewesen wäre. Um sie herum flirrte und schimmerte eine seltsame Wand, die nachgab, wo er versuchte durchzudringen, aber letztendlich seinen Vorstoß nur in eine andere Richtung lenkte und den Zugriff auf ihre Vergangenheit oder Zukunft unmöglich machte. Selbst das Hier und Jetzt schien sich vor ihm verbergen zu wollen, obwohl sie doch nur wenige Meter von ihm entfernt stand. Unvermittelt fühlte Torek sich so unbeholfen wie noch vor Monaten. Die alte Frau war nicht im Mindesten von seinen seherischen Fähigkeiten beeindruckt. Ihr Lächeln wurde abschätzig und schubste den Rest seiner Selbstsicherheit in den Dreck.

»Wer die Augen zu weit aufreißt, kann leicht geblendet werden und Schaden nehmen«, sagte sie. Ihr Lächeln war wie fortgewischt.

Diesmal musste Torek schlucken. Das hatte wie eine Drohung geklungen, oder nicht?

»Nur ein gutgemeinter Rat, junger Seher«, beantwortete sie seine unausgesprochene Frage und grinste jetzt breit. »Du solltest begreifen, dass sich dir nicht alles offenbaren kann. Die künftigen Zeiten sind und bleiben ein Geheimnis, selbst für einen so weitsichtigen jungen Mann, wie du es bist. Akzeptiere, dass deine Visionen nur Möglichkeiten in einem Spiel zeigen, dessen Einsatz du selbst bestimmen kannst.«

Wut loderte in ihm auf und wurde doch gleich wieder von den durchdringenden Augen der alten Merka zertreten, bevor sie in Flammen aufgehen konnte. Wer war die alte Frau? Wieso verbarg sich ihr Schicksal vor ihm und wie stellte sie es an?

Ein erheitertes Kichern schüttelte den Körper Merkas. Mit ihrer dürren Hand umfasste sie den Stock, auf den sie sich stützte, fester. Der Handrücken war knotig und mit Altersflecken übersät. Man konnte meinen, dass sie so alt wie diese Insel war.

»Du bist so ein schlauer Junge, Torek«, sagte sie vergnügt. »Konzentrier dich lieber auf die Möglichkeiten, die das Schicksal dir zu Füßen legt.« Damit deutete sie in Richtung Dorf. Torek folgte mit den Augen in die angegebene Richtung. Sein Herz schlug augenblicklich schneller, als er Shamila erkannte. Zielstrebig wanderte sie den Berg hinauf und hob einen Arm zum Gruß, als sie die beiden entdeckte.

»Es gibt einen Weg abseits der Macht. Ein Weg, auf dem Frieden und ja, sogar Glück dicht beieinander liegen.« Merka sah Torek jetzt wieder ernst an. Jede Spur von Belustigung und Verachtung war verschwunden. Toreks Magen krampfte sich zusammen. Dann sah er wieder auf Shamila, die nur noch wenige Schritte entfernt war. Einerseits verspürte er das Verlangen, ihre Zukunft zu betrachten, doch andererseits widerstrebte ihm dies zutiefst. Er wollte sie nicht auf diese Weise erkunden. Das Eindringen in ihr Schicksal glich dem Eindringen in einen intimen Bereich, als würde er sie auf eine Weise entblößen, die ihm so nicht zustand.

»Merka«, sagte Shamila, als sie die beiden erreichte, und lächelte die alte Frau erleichtert an, während sie ihm nur ein kurzes Kopfnicken schenkte. »Torek«

Ihre Stimme löste eine Gänsehaut auf seinem Rücken aus, auch wenn sie ihre Aufmerksamkeit ganz Merka schenkte. »Nuri braucht dich. Es ist so weit. Das Baby kommt.«

Die alte Frau schien in ihrer Gestalt zusammenzuschrumpfen, während sie mit plötzlich zitternden Fingern nach dem Arm Shamilas griff, um sich dort Halt zu suchen.

»Dann lass uns keine Zeit verschwenden, mein liebes Kind«, sagte sie und wackelte mit dem Kopf, wie es alte Frauen oft taten. »Bring mich zu Nuri.«

Nachdenklich schaute Torek den beiden Frauen nach, bis sie verschwunden waren. Trotzdem Merka ein unbehagliches Gefühl in ihm hervorgerufen hatte, lag sein Herz federleicht in seiner Brust. Eine Eigenschaft, die jeder Begegnung mit Shamila innewohnte, auch wenn sie noch so flüchtig war.

 

*

 

Am Morgen des vierten Tages segelte die Monsoon Treasure in großem Abstand, gefolgt von den spanischen Schiffen, in den Hafen von Cartagena.

Noch während sie mit dem Anlegemanöver beschäftigt waren, ritten bewaffnete Wachen vor die Pier, in deren Begleitung sich eine schwarze Kalesche befand. Ein Diener sprang eilfertig vom Kutschbock, um den Wagenschlag zu öffnen. Bevor dieser danach greifen konnte, öffnete sich die Tür und die schlanke Gestalt von Christobal Tirado y Martinez schob sich hinaus.

Jess nickte dem Gouverneur zu, als ihre Blicke sich trafen. Auch ohne in die Strömungen des Spaniers zu tauchen, war die Ungeduld in seinen Augen unübersehbar. Da die Treasure das erste Schiff war, das zurückkehrte, hatte Tirado noch keinerlei Informationen darüber, wie die Schlacht verlaufen war. Auch wenn er sich zumindest Teile selbst zusammenreimen konnte, da die Treasure unübersehbar wieder in Jess’ Besitz war.

Tirado schritt geradewegs auf das Schiff zu, dessen Laufplanke gerade von Dan und Sam ausgebracht wurde. Bevor er das Deck betrat, blieb der Gouverneur stehen und sah abwartend zu Jess.

»Willkommen an Bord der Monsoon Treasure, Señor Gouverneur«, begrüßte ihn dieser und machte eine einladende Geste mit dem Arm.

»Wie ich sehe, ist das Unternehmen von Erfolg gekrönt. Ich freue mich, Euch wohlbehalten in Cartagena willkommen heißen zu dürfen, Capitan Morgan«, entgegnete der Spanier und warf dabei einen interessierten Blick auf den offenen Hemdausschnitt von Jess, »und vollständig, wie ich sehe. Ich brenne darauf, jede Einzelheit zu erfahren.«

»Ich werde Euch gerne einen umfassenden Bericht erstatten. Wenn Ihr mir bitte folgen wollt.« Jess wandte sich um und ging dem Gouverneur voraus. In seiner Kajüte deutete er auf einen Stuhl. »Bitte nehmt Platz.«

Tirado ließ einen Moment den Blick neugierig über die Einrichtung wandern, bevor er sich an den großen Kartentisch setzte. Jess beobachtete ihn, während er ein Kristallglas mit schwerem Rotwein füllte und sich selbst Frischwasser einschenkte.

»Lasst uns nicht um den heißen Brei herumreden, Capitan. Stillt meine Neugierde: Wie groß sind unsere Verluste?« Ohne Umschweife kam der Spanier auf den Grund seines Erscheinens zu sprechen. Jess hätte es auch gewundert, wenn dieser Mann anders vorgegangen wäre. Bei ihren letzten Begegnungen war er stets direkt gewesen und hatte sich nicht hinter Floskeln verborgen. Jetzt sah er Jess besorgt an, während er das Glas unbeachtet an die Seite schob.

»Sechs Schiffe sind gesunken, drei manövrierunfähig. Die genaue Zahl an Verlusten unter den Männern sowie die Schäden an den Schiffen wollte Admiral Gonzalez Euch selbst überbringen. Ich fürchte jedoch, dass die Anzahl nicht so gering ist, wie ich es gerne gehabt hätte.«

Die braunen Augen des Gouverneurs musterten ihn ernst. Seine Hand strich beiläufig über die Karte, die vor ihm ausgebreitet lag und den Ausschnitt mit dem Barriereriff zeigte, wo die Schlacht stattgefunden hatte. Ein unberührter Fleck auf der Karte, der keinen Hinweis auf das Blutvergießen gab, das dort stattgefunden hatte.

»Die Waidami?«

»Neun Schiffe versenkt, acht Schiffen gelang die Flucht.«

Tirados rechte Augenbraue wanderte in einer steilen Kurve nach oben. »So viele?«, fragte er verwundert. Dann nickte er, wie zu sich selbst. »Bitte, Capitan, fahrt fort und schildert mir, was sich zugetragen hat.«

Während Jess den Verlauf der Schlacht schilderte, schwieg Tirado, ließ ihn aber keinen Moment dabei aus den Augen. Als er von der Begegnung und dem Kampf mit McDermott berichtete, runzelte sich die glatte Stirn des Spaniers, doch er schwieg weiterhin geduldig, bis Jess seinen Bericht beendete.

Für einige Augenblicke herrschte Stille in dem großen Raum. Jess, der bis jetzt gestanden hatte, trat auf die gegenüberliegende Seite des Tisches und warf einen Blick durch das Fenster hinaus. Inzwischen hatten sich mehrere der spanischen Segelschiffe zu ihnen gesellt und lagen dicht bei der Treasure vor Anker. Ein friedliches Bild. Dennoch war Jess durchaus bewusst, dass Admiral Gonzalez die Ankerplätze der Schiffe nicht zufällig gewählt hatte. Unauffällig hatte man ihn in die Mitte genommen. Der Mann traute ihm nicht, gleich, was sein Gouverneur auch von ihm halten mochte. Er blieb der Pirat, den man im Auge behalten musste oder besser noch direkt vor den Mündungen der spanischen Kanonen.

»Wenn ich richtig mitgezählt habe, Capitan, dann befanden sich auf der Seite der Waidami siebzehn Schiffe?«

Jess wandte sich wieder dem Spanier zu. Tirado trommelte nachdenklich auf dem Kartenausschnitt mit dem Barriereriff herum.

»Aye!«

»Wisst Ihr, ob dies allesamt Schiffe waren, die auch mit ihren Kapitänen verbunden sind? Oder handelte es sich womöglich um neue Verbündete?«

»Soweit ich das beurteilen kann, waren es Kapitäne der Waidami. Ich kann mir niemanden vorstellen, der ein Bündnis mit den Waidami eingehen würde. Noch weniger einen Partner, den sich der Oberste Seher an die Seite holen würde.«

»Woher kommen plötzlich so viele Schiffe? Ich habe noch nie davon gehört, dass mehr als drei oder vier Waidami-Schiffe auf einmal gesichtet worden sind.«

»Diesmal lag es jedoch in ihrer Absicht, die Silberflotte zu überfallen. Da sie im Besitz der Derroterro waren, kannten sie die Aufstellung der spanischen Schiffe, Señor Gouverneur. Es war damit zu rechnen, dass eine Flotte angreift. Jedoch muss ich gestehen, dass auch ich nicht mit einer derartig hohen Zahl gerechnet habe.«

Tirado stoppte das Trommeln seiner Finger und hob den Blick. »Ihr sagt dies so, als ob Euch etwas die Zunge beschwert, Ihr aber zu unwillig seid, es auszusprechen, mein Freund.«

»Sagen wir, ich habe das Gefühl, dass der Ablauf der Schlacht, auch wenn ganz in unserem Sinne, doch zu einfach war.«

»Was veranlasst Euch zu diesem Gedanken? Euer Plan, die Männer unter Deck hinter den Silberbarren zu verbergen war überzeugend. Die Strömungen der Soldaten konnten so nicht von ihnen ausgemacht werden. Das Überraschungsmoment lag damit auf Eurer Seite. Also, was ist es, das Euch zweifeln lässt?«

»Die spanische Flotte war in der Überzahl, aber der Großteil bestand auch aus schwerfälligen Schatzschiffen, die im Kampf leicht auszumanövrieren sind. Die Kapitäne der Waidami sind Euren Kapitänen weit überlegen. Verzeiht meine Ehrlichkeit, Señor Gouverneur. Aber in Anbetracht der Anzahl der Waidami-Schiffe bin ich ehrlich überrascht, dass mein Plan aufgegangen ist.«

»Ihr wollt also andeuten, dass wir diese Schlacht gewonnen haben, weil wir sie gewinnen sollten. Ist es das?«

»Möglicherweise.« Er wusste selbst, wie verrückt das klang. Dennoch hatte er das Gefühl, dass sich etwas über ihnen zusammenbraute, mit dem niemand von ihnen rechnete.

Tirado atmete tief ein. Langsam stand er auf, trat um den Tisch herum und stellte sich neben Jess. Sein Blick wanderte über die Schiffe, die draußen in der Bucht verteilt lagen und alle ihre Breitseiten der Monsoon Treasure präsentierten. Langsam verschränkte er die Arme vor der Brust und nickte: »Dann macht es also Sinn, dass mein Admiral dem einzigen Piratenschiff in dieser Bucht seine gesamte Aufmerksamkeit zuteilwerden lässt.«

»Ich plane keinen Verrat, wenn Ihr das vermuten solltet.«

Tirado warf ihm einen Blick von der Seite zu. »Nein, das glaube ich Euch sogar. Auch wenn ich selbst zutiefst überrascht darüber bin.« Ein flüchtiges Lächeln glitt über sein Gesicht, bevor ein Schatten darauf zurückblieb. »Aber möglicherweise tragt Ihr, ohne es zu wissen, etwas mit Euch, was den Waidami einen Vorteil verschafft. - Wir sollten unseren gemeinsamen Feind nicht unterschätzen.«

Jess nickte langsam. Tirado hatte Recht und sprach nur aus, worüber er selbst sich bereits seit dem Ende der Schlacht seine Gedanken machte. »Ich werde meine Männer anweisen, das Schiff noch einmal zu durchsuchen.« Doch er hatte nicht die geringste Ahnung, wonach die Männer suchen sollten. »Ich fürchte jedoch, dass es zu einfach wäre, wenn die Waidami etwas oder jemanden an Bord versteckt hätten. Versprecht Euch nicht zu viel davon.«

»Ich denke, das wäre auch zu einfach. Lasst uns die Zeit nutzen, während Ihr hier auf die Ankunft Eurer Männer wartet. Wir können den Hergang der Schlacht in Ruhe durchgehen und nach möglichen Fallen suchen. Also erweist mir den Gefallen und nehmt eine offizielle Einladung von mir an. Es ermöglicht Euch das Betreten meines Palastes durch die Tür wie gewöhnliche Menschen und macht es nicht nötig, unbescholtene Damen in Aufruhr zu versetzen«, sagte er und spielte damit auf Jess’ letzten Besuch während eines Maskenballes an. Ein Grinsen breitete sich jetzt auf seinem Gesicht aus. Es war das erste Mal seit Betreten des Schiffes, dass Jess den Eindruck hatte, dem Tirado gegenüberzustehen, den er bei seinen bisherigen Begegnungen kennengelernt hatte.

»Nebenbei bemerkt, Señor Capitan, würdet Ihr mir eine Freude bereiten, wenn Ihr Eure bezaubernde Navigatorin als Begleitung mitbrächtet. Ich hoffe, sie ist unbeschadet aus der Schlacht mit Euch zurückgekehrt?« Tirado hatte sich jetzt ihm wieder ganz zugewandt und drehte dem Fenster und den drohenden Schiffen den Rücken zu. Das Interesse an Lanea wehte wie eine frische Brise durch den Raum und überraschte Jess, wie der leichte Schmerz, der sich im selben Moment wieder über die Tätowierung auf seiner Brust ergoss.

»Es geht ihr gut, danke«, entgegnete er und fuhr sich mit der Hand über die schmerzende Stelle. Kälte drang durch den Stoff des Hemdes in seine Handfläche. »Ohne Eure Hilfe hätte sie es wohl kaum rechtzeitig geschafft, zur Schlacht dazuzustoßen. Eine neue Verbindung wäre ohne den Dolch nicht möglich gewesen. Ich bin Euch mehr als nur zu Dank verpflichtet.«

Tirado winkte ab und ging langsam auf die Tür zu. »Seid mein Gast, Señor Capitan. Damit erweist Ihr mir Dank genug. Ich werde eine Kutsche schicken, die Euch und Eure Begleiterin abholen wird.«

»Es wird uns ein Vergnügen sein.«

Der Spanier nickte ihm kurz zu und verließ den Raum. Jess blieb nachdenklich zurück.

Entscheidungen

 

Tirado öffnete die beiden Fenster und machte einen Schritt hinaus auf den schmalen Balkon. Der Garten lag still und friedlich vor ihm. Das leise Plätschern des Brunnens mischte sich mit dem Spiel der Zikaden zu einer einschläfernden Hintergrundmelodie. Genau das, was er jetzt brauchte. Die Gespräche mit den Kommandanten der Silberflotte, die aus ihrer Sicht das Geschehen in der Schlacht geschildert hatten, waren ermüdend gewesen und hatten ihn letztendlich nur zu der gleichen Erkenntnis geführt, die auch Morgan bereits festgestellt hatte. Trotz aller Verluste war die Übernahme der Monsoon Treasure beinahe zu einfach gewesen. Der Kapitän war, laut Bericht von Admiral Gonzalez, geradezu mühelos überwältigt worden. Gonzalez hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass er Morgan verdächtigte, ein falsches Spiel zu spielen, um die Waidami direkt in den Hafen von Cartagena zu bringen. Unnachgiebig hatte er dazu geraten, den Piraten augenblicklich in Ketten zu legen und ihn nicht als Gast im Palast weilen zu lassen. Dazu war die überraschende Botschaft gekommen, dass die Waidami eine kleine Küstenstadt und ein Kloster überfallen hatten und niemand diese Massaker überlebt hatte. Tief atmete Tirado die kühle Abendluft ein. Nein, nicht Morgan war das Problem. Er seufzte und kniff die Augen zusammen.

Aus den Schatten der Gartenanlage traten zwei Gestalten, die eng beieinander gingen.

Am Brunnen blieben sie stehen, sodass das matte Licht sie beleuchtete. Das azurblaue Kleid, das Lanea trug, schimmerte tiefgründig wie das Meer in der Abenddämmerung. Der Manteau, der in Wellen dabei von ihren schmalen Schultern fiel, verstärkte den Eindruck. Schweigend stand das Paar sich gegenüber, vertieft in der Betrachtung des anderen, als müssten sie sich jede Einzelheit einprägen. Dann begann Lanea zu sprechen. Tirado konnte sie nicht verstehen, aber an den Gesten ihrer Hände und ihren unruhigen Schritten bemerkte er, dass ihre eigenen Worte sie stark aufwühlten. Schließlich blieb sie wieder vor dem Piraten stehen. Die junge Frau schüttelte heftig den Kopf. Eine Hand legte sie über ihren Mund, als wollte sie zu lautes Weinen unterdrücken, während sie mit der anderen ihre Mitte umschlang. Tirado spürte ihren Schmerz nahezu körperlich. Er konnte nur vermuten, dass sie gerade von dem Tode ihres Vaters berichtete.

Da stand diese junge Frau, vor der er ehrlichen Respekt empfand. So entschlossen, wie sie damals hier aufgetaucht war, um ihn um Hilfe zu bitten, hatte sie kaum etwas von den tiefen Wunden in ihrem Inneren gezeigt. Jetzt verlor sie jegliche Selbstbeherrschung. Ihr Gesicht war nach unten gesenkt, während ihre Schultern von Weinkrämpfen geschüttelt wurden. Jess Morgan stand ruhig da und hörte zu, ließ ihr Raum für ihren Schmerz. Erst als sie geendet hatte, nahm er sanft ihr Gesicht in seine Hände, hob es zu sich heran und sprach. Seine Worte schienen wie ein unsichtbarer Halt zu sein. Ihre Gestalt richtete sich daran auf, ihr Blick saugte seinen Anblick in sich auf. Der Pirat senkte seinen Mund auf ihre Lippen und küsste sie zärtlich. Laneas Arme schlossen sich dabei um seine schlanke Gestalt, und sie drängte sich an ihn, als ob nur in seiner unmittelbaren Nähe Trost zu finden war.

Tirado räusperte sich verlegen und ging rückwärts zurück in das Gebäude, bis er die beiden aus dem Blick verlor. Dieser Augenblick war nicht für ihn bestimmt. Dennoch war er froh, dass er Zeuge davon geworden war; bestätigte es ihn doch in seiner Meinung, dass man einen Mann nicht stur nach Gut und Böse einordnen konnte. Sicher hatte Morgan Verbrechen begangen, die ohne jede Rücksicht auf Geschlecht und Alter vorgegangen waren. Die Schiffe, die er gekapert hatte, waren allesamt mit der an Bord befindlichen Besatzung versenkt worden. Dennoch hob er sich von den anderen Piraten ab, hatte sich von seinem Gewissen leiten lassen und die Seiten gewechselt. Und daran hegte er keinen Zweifel, gleich, was Admiral Gonzalez glaubte. Morgan hatte bewiesen, dass es viele Facetten gab. Selbst zu tiefen Gefühlen war er fähig. Aus jedem Blick und jeder Geste in Richtung Laneas sprach eine Liebe, die er selbst bisher nicht kennengelernt hatte. Was Morgan und diese Frau füreinander empfanden, war unübersehbar ein kostbarer Schatz. Tirado seufzte leise. Seine Gedanken wanderten von alleine zu der Pergamentrolle, die ihm der Seher für Morgan ausgehändigt hatte und nun wie ein zu fettes Abendmahl schwer in seinem Magen lag. Es war an der Zeit, die Rolle zu übergeben. Ein Gedanke schlich wie ein dunkler Schatten durch die Nacht und setzte sich in ihm fest. Was, wenn dieses Schreiben nichts Gutes zu verkünden hatte?

Leise schloss Tirado die Fenster und damit den Garten und die beiden Menschen dort aus seiner Gegenwart aus. Er fürchtete, dass ihr Glück nur von kurzer Dauer sein könnte.

 

*

 

Im Verlaufe des Abends wurde Tirado immer ungeduldiger. Es war nun schon Stunden her, dass er Lanea und Jess im Garten beobachtet hatte. Das Mahl mit seinen Gästen zog sich dahin. Admiral Gonzalez und seine Gattin, vor allem diese, plauderten angeregt mit Morgan. Während seine Begleiterin Lanea sich nur zaghaft beteiligte, was dem Umstand geschuldet war, dass sie sich auf ungewohntem Terrain befand, kam von Kardinal Joaquin García Álvarez tadelnde Blicke und Worte der Geringschätzung. Nur mühsam konnte Tirado sich an die gebotene Höflichkeit halten und sich an der Konversation beteiligen, wie es von einem Gastgeber erwartet wurde. Seine Verpflichtungen, die er als Gouverneur hatte, waren an diesem Abend mehr als unerquicklich. In seinem Hinterkopf drohte die zu überreichende Pergamentrolle allgegenwärtig und verdarb ihm den Appetit, ohne dass er ihren Inhalt kannte.

»Für einen Piraten seid Ihr ungewöhnlich gebildet«, sagte gerade die Frau des Admirals und strahlte Morgan an, nicht ohne ihrem Gatten einen befangenen Blick zuzuwerfen.

»Tatsächlich?« Jess wandte sich der Dame mit einem charmanten Lächeln zu, die daraufhin hochrot anlief. »Ich nehme an, Ihr habt einen reichen Erfahrungsschatz an Begegnungen mit meinesgleichen?«

»Oh, nein! Gott sei Dank nicht! Oh, verzeiht. Ich meine ... Piraten trinken doch Rum, sagt man und sind grob und ...«
»Wundert es Euch wirklich, Donna Isadora, dass dieses Gesindel eine gewisse Bildung besitzt?«, fiel Kardinal Álvarez der Dame ganz ungalant ins Wort und hob in einer unnachahmlichen Geste die Augenbrauen. Damit wirkte er noch überheblicher als bereits zuvor. Sein Missfallen über die Gegenwart von Morgan stand offen in seiner aufgeblasenen Miene. Nur zu deutlich hatte Tirado die Auseinandersetzung mit ihm in Erinnerung, als der Mann von den gemeinsamen Plänen mit dem Piraten erfahren hatte. »Natürlich ist der Teufel gebildet! Um die Menschheit unbemerkt in ihr Verderben zu führen, benötigt es Verschlagenheit, Boshaftigkeit und leider auch Intelligenz. Wie sonst sollte ausgerechnet ein ehrenwerter Mann wie Señor Gouverneur Tirado y Martinez, der seinem Land tagtäglich zur Ehre gereicht, in die mit Verblendung ausgestattete Falle eines Piraten hineinstolpern, der sich wie ein Wolf unter das Leben von anständigen Bürgern schleicht?«

Tirado sog scharf die Luft ein, als der Pirat sich mit nicht deutbarer Miene an den Geistlichen wandte. Allerdings hegte er keinen Zweifel, dass Morgan den Frieden an der Tafel seines Gastgebers nicht gefährden würde.

»Möglicherweise gehören diese sicherlich negativen Eigenschaften zu meinem Leben dazu, wie die unerschöpfliche Liebe, die Ihr zu Euren Schützlingen hegt und in aller Großzügigkeit auch auf die einheimische Bevölkerung ausdehnt. Doch liegt es mir fern, mich in Unschuld gewandet unter meine Opfer zu begeben. Dies ist wohl mehr die Vorgehensweise, mit der die Indios Bekanntschaft von anderer Seite gemacht haben.«

»Es mangelt Euch an jeglichem Respekt unserem Herrn und seiner Gefolgschaft auf Erden gegenüber. Ich. ...«

»Das sagt jemand, der seine Demut auszieht wie seine Kutte, wenn er Angst hat, sie könnte beschmutzt werden?«

Hektische rote Flecken breiteten sich auf dem strengen Gesicht des hageren Mannes aus. »Señor Gouverneur!«, sagte er mit zitternder Stimme und erhob sich steif. »Ich komme nicht umhin, mich über die mehr als fragwürdige Gesellschaft an Eurer Tafel zu wundern. Ich verwahre mich davor, mit einem Mann das Mahl zu teilen, der seine Seele bekanntermaßen Satan verschrieben hat, ganz zu schweigen von der Schamlosigkeit, dass seine Mätresse ...«

»Genug!« Tirado erhob sich nun seinerseits, was den Bischof augenblicklich zum Verstummen brachte. Triumphierend warf er Morgan einen überheblichen Blick zu, in der festen Überzeugung nun die Unterstützung des gottesfürchtigen Gouverneurs zu erhalten, und setzte sich wieder. »Bei allem gebotenen Respekt, Eure Eminenz, aber wen ich an MEINE Tafel als Gast bitte, unterliegt ganz alleine meiner Entscheidung. Selbstverständlich liegt mir das Wohlbefinden jeden Gastes am Herzen, doch vor allem steht jeder Gast unter meinem persönlichen Schutz. Und so kann ich es ganz und gar nicht dulden, dass jemand an meiner Tafel beleidigt wird, gleich von wem. Ich ersuche Euch hiermit in aller Form, besinnt Euch auf die gebotene Höflichkeit und nehmt wieder Platz.«

Der Kardinal schnappte nach Luft: »Womöglich verlangt Ihr noch von mir, dieser Hu ...«

»Ich sagte genug.« Tirados Worte waren leise, aber nicht ohne Schärfe. »Zwingt mich nicht dazu, Euch hinausbitten zu müssen, Eure Eminenz.«

Der Mann schluckte. Die roten Flecken wurden von einem Augenblick auf den anderen von fahler Blässe überlagert, als er sich erneut erhob. Die Arroganz wich der Miene eines Märtyrers, als er langsam nickte. »Ganz wie Ihr wünscht, Señor Gouverneur. Ich bedaure sehr, dass die Falle dieses gotteslästerlichen Piraten Euren Verstand bereits derart fest umklammert hält. Doch ich verzeihe Euch und werde für Eure Seele beten, auf dass sie zurückkehren werde in die Gefilde der Wahrhaftigkeit!« Damit rauschte er davon, ohne noch einen Blick an einen der Umstehenden zu verschwenden.

Tirado hatte das unbestimmte Gefühl, sich den Kardinal gerade zu einem unliebsamen Feind gemacht zu haben. Nur zu genau wusste er, dass der Mann bereits seit einiger Zeit eine Liste mit Verfehlungen führte, die er als Gouverneur in den Augen des Geistlichen beging. Diese Auseinandersetzung gab seiner Geduld den Rest. Mit entschuldigendem Lächeln wandte er sich wieder der Tafel zu. Der Admiral legte gerade seine Serviette säuberlich gefaltet ab und nickte ihm zu.

»Ich denke, es war für uns alle ein langer und anstrengender Abend, Señor Gouverneur. Und ich habe meine Familie schon seit einigen Wochen nicht mehr gesehen.« Mit einer galanten Geste ergriff er die Hand seiner Frau, die sich daraufhin lächelnd erhob. »Wenn Ihr erlaubt, ziehen wir uns zurück.«

»Sehr gerne, Admiral.« Tirado lächelte ihm dankbar zu. Auch wenn Gonzalez Morgan misstraute, stand er doch absolut loyal zu den Entscheidungen, die er als Gouverneur traf. Ein Mann, von dessen Sorte er sich mehr in seiner Umgebung gewünscht hätte. »Eine Kutsche wird Euch nach Hause bringen. Donna Isadora!« Tirado verbeugte sich vor der Frau, die ihre besten Tage bereits hinter sich hatte, aber immer noch kokett lächelte wie ein junges Mädchen.

Als sie den Raum verließen, sah er ihnen unschlüssig hinterher. Er musste mit Morgan alleine sprechen. Lanea sollte bei der Übergabe der Pergamentrolle nicht anwesend sein.

»Ich bedaure diesen Zwischenfall, Señor Gouverneur.« Jess sah ihn unumwunden an. Er hatte sich ebenfalls erhoben und schien Anstalten zu machen, sich zu verabschieden. Lanea begegnete aufmerksam seinem Blick. Nur zu deutlich stand das Erkennen in ihren Augen, dass er alleine mit Morgan reden wollte. Sie legte dem Piraten leicht eine Hand auf den Arm, als auch sie langsam aufstand. »Ich denke, ich werde zur Treasure zurückkehren, wenn die Herren erlauben. Auch für mich war der Abend anstrengend in dieser doch sehr ungewohnten Umgebung.«

»Ich habe bereits Anweisung erteilt, ein Schlafgemach für Euch und Capitan Morgan richten zu lassen. Bitte erweist mir die Ehre und nehmt das Angebot an. Die Bequemlichkeit ist sicher ungleich höher als auf der Monsoon Treasure. Eine Kutsche wird die gesamte Nacht bereitstehen und Euch zum Hafen bringen, wenn Ihr es dennoch wünschen solltet.«

Lanea sah zögernd zu Morgan. Dessen Miene verzog sich zu einem wissenden Lächeln, als hätte sie ihm etwas zugeflüstert.

 »Auch dieses Angebot nehmen wir nur allzu gerne an.« Er nickte und über das Gesicht der jungen Frau flog ein freudiger Schimmer.

 

*

 

Cristobal wartete, bis die Tür sich hinter Lanea geschlossen hatte. Jess Morgan hatte sich genau wie er selbst von seinem Platz erhoben und blickte ihr mit hinter dem Rücken verschränkten Armen hinterher. Sie standen sich gegenüber und sahen sich schließlich über den Tisch hinweg an.

»Lasst uns den Abend bei einem Glas Portwein auf der Terrasse beschließen, Capitan Morgan.« Unschlüssig glitt Cristobals Blick zu der schmalen Schatulle, die am Ende des Tisches stand. Das Mahagoni, aus dem sie bestand, glänzte frischpoliert und verriet nichts über ihren Inhalt. Jess‘ Augen verengten sich kaum merklich und folgten seinem Blick. Auch wenn der Pirat entspannt wirkte, schien nicht das Geringste seiner Aufmerksamkeit zu entgehen. Dann nickte er und betrat nachdenklich an seiner Seite die Terrasse.

»Nehmt Platz, mein Freund«, sagte er und deutete auf einen Stuhl. Er selbst nahm gegenüber Platz und nickte dann Rodriguez zu, der abwartend neben der Tür stand.

Augenblicklich eilte der Diener eilfertig herbei und platzierte mit eleganten Bewegungen zwei zierliche Kristallkelche und schenkte aus einer kunstvoll geschliffenen Karaffe den Portwein ein.

»Du darfst dich zurückziehen, Rodriguez. Ich benötige deine Dienste heute Abend nicht mehr.«

»Ganz wie Ihr wünscht, Señor Gouverneur.« Der Diener verbeugte sich steif und schritt davon.

Tirado hob sein Glas und schwenkte es behutsam, sodass die blutrote Flüssigkeit in sanften Kreisen darin umher floss. Es wirkte träge und stand so im scharfen Gegensatz zu der verheißungsvollen blutroten Farbe des Getränks. Versonnen schnupperte er an dem Glas und betrachtete sein Gegenüber über den Rand hinweg.

Dieser Moment war einer der seltenen in seinem Leben, in denen er nicht wusste, wie er das folgende Gespräch beginnen sollte. Diesmal saß ihm kein spanischer Abgesandter gegenüber oder irgendein Kaufmann, die es mit geschickten Reden für sich einzunehmen galt. Ihm gegenüber saß ein Pirat, den er tatsächlich als einen Freund betrachtete und über dessen Unberechenbarkeit er sich durchaus im Klaren war. Tirado hatte nicht die geringste Ahnung, ob dieser Mann ihn seinerseits als Freund betrachtete. Aber wenn er die letzten Begegnungen mit ihm Revue passieren ließ und den vergangenen Tag, dann hatte er daran keinen Zweifel. Jess Morgan hatte ihm die Reste der Silberflotte zurückgebracht und die Schiffe mit den versprochenen Schätzen als Entlohnung waren noch während des Abendessens im Hafen eingelaufen. Noch immer musste Cristobal darüber staunen, wie viele Schätze diese Piraten im Laufe ihrer Karriere gehortet haben mussten. Zwei Schiffe der Silberflotte waren randvoll mit den unglaublichsten Schätzen zurückgekehrt. Natürlich war nicht zu übersehen gewesen, dass die Mehrzahl davon ohnehin nur zu ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückgebracht wurde. Fast hätte er geschmunzelt, wenn er nicht dem aufmerksamen Blick Morgans begegnet wäre, der ihn nicht aus den Augen ließ. Plötzlich verzog sich Morgans Gesicht zu einem breiten Grinsen.

»Verzeiht, wenn es so scheint, als würde ich mich über Euch amüsieren, Señor Gouverneur. Aber ich komme nicht umhin festzustellen, dass Ihr eine ungewöhnliche Anspannung ausstrahlt.« Jess lächelte ihn an, dann lehnte er sich entspannt zurück und schlug seine langen Beine übereinander.

Tirado nickte.

»Ihr verfügt in der Tat über eine ausgeprägte Beobachtungsgabe.« Tirado stand auf und schüttelte abwehrend den Kopf, als Jess sich ebenfalls erheben wollte. »Bitte bleibt sitzen, aber erlaubt mir zu holen, was diese Anspannung auslöst.«

Der Pirat nickte seinerseits und beobachtete, wie der Gouverneur wieder in den Speiseraum trat, die Schatulle an sich nahm und zurück auf die Terrasse trug. Behutsam stellte Tirado seine Fracht auf dem Tisch ab. Jess Morgan hob fragend eine Augenbraue und betrachtete ihn wortlos.

»Kurz nachdem Ihr mit der Silberflotte den Hafen von Cartagena verlassen habt, hatte ich, wie Ihr ja bereits wisst, Besuch von Eurer reizenden Navigatorin, die mich um Hilfe bat. – Was Ihr nicht wisst, ist, dass ich noch weiteren Besuch erhielt, kaum dass Lanea den Palast verlassen hatte.« Tirado machte eine Pause, in der er aufmerksam Jess beobachtete. Doch dieser saß völlig entspannt da, lediglich das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. »Es handelte sich um einen Seher, und er behauptete, er wäre ein Freund von Euch.«

Der gelassene Ausdruck im Gesicht des Piraten wich, und blankes Misstrauen trat in seine Augen. Er saß weiterhin regungslos da, doch Tirado hatte auch bemerkt, wie eine kaum sichtbare Anspannung durch seinen Körper lief. Das Raubtier in diesem Mann witterte Gefahr und vermittelte nun den Eindruck, jederzeit zum Angriff übergehen zu können.

»Er hat sich nur kurz hier aufgehalten und stellte sich als ein Freund Tamakas vor. Durch den vorhergehenden Besuch Laneas war mir dieser Name nicht unbekannt. Sie hatte mir erzählt, dass er ihr Vater gewesen war, und dass er sein Leben dabei verlor, für Euch den Dolch der Thethepel zu stehlen. Da die Bitte, die er an mich richtete, mir von harmloser Natur erschien, sah ich keinen Grund dafür, in ihm eine Gefahr zu sehen. Er übergab mir eine schlichte Schriftrolle, die ich allein an Euch weiterreichen sollte, nachdem Ihr von der Schlacht zurückgekehrt seid. – Der Mann legte größten Wert darauf, dass Ihr diese nicht erhaltet, solange Eure Begleiterin zugegen ist.«

Tirado öffnete den Deckel der Schatulle und hob eine Pergamentrolle heraus, die mit einem roten Siegel verschlossen war. Mit einem unbestimmten Gefühl reichte er die Rolle Jess Morgan. Der Pirat verzog unwillig das Gesicht, als er zögernd danach griff und sie argwöhnisch in der Hand wog.

»Ich werde mich zurückziehen, damit Ihr in Ruhe den Inhalt der Nachricht studieren könnt.« Tirado klappte den Deckel der Schatulle mit einem dumpfen Geräusch zu und wollte sich zum Gehen wenden.

»Bleibt!« Die Stimme Morgans hatte einen scharfen Unterton, und Tirado blieb überrascht stehen. »Bitte!«, fügte Jess Morgan besänftigend hinzu. »Leistet mir Gesellschaft. Ich werde einen Freund an meiner Seite zu schätzen wissen.«

Tirado nickte und kehrte zu seinem Stuhl zurück. Gespannt setzte er sich und wartete ab. Zu seinem Erstaunen war es diesmal der Pirat, der verunsichert wirkte, als er das Siegel brach. Die Rolle öffnete sich mit einem leisen Knistern, und er sah Schriftzeichen, die er nicht kannte und für ihn in dieser seltsamen Anordnung auch keinen Sinn ergaben. Jess‘ Augen hingegen schienen mühelos über die Schrift zu fliegen und dem Sinn zu folgen, der in ihnen verborgen lag. Tirado lief ein Schauer über den Rücken, als er die Veränderung sah, die sich bei seinem Gegenüber zeigte.

Er hatte es schon zuvor bemerkt, dass die Farbe von Jess’ Augen einem gewissen Stimmungswechsel unterlag. Doch jetzt war nicht zu übersehen, wie sehr sie einem Barometer für die innerliche Verfassung des Piraten glichen. Äußerlich machte Jess den Eindruck, als würde er irgendein nichtssagendes Pergament lesen. Doch der ursprüngliche warme Blauton wechselte innerhalb von Bruchteilen eines Atemzuges über Eisblau in Sturmgrau. Nach einer scheinbaren Ewigkeit ließ Jess die Pergamentrolle mit einer mühsam beherrschten Bewegung sinken und legte sie neben sich auf den kleinen Tisch. Das Gesicht war eine einzige Maske und offenbarte nicht das Geringste, was in dem Mann vorging. Sein Blick war in den Garten gerichtet, der sich im Schatten der Nacht verborgen hielt. Trotzdem lag die Anspannung greifbar in der Luft, als hätte sich ein Moskitoschwarm über die beiden Männer gelegt. Tirado widerstand nur mühsam seiner Neugierde. Wie konnte ein einfaches Schriftstück einen Mann wie Jess Morgan so an den Rand seiner Fassung bringen. Hatte er doch einen Fehler begangen und den Seher unterschätzt?

Jess Morgan stand mit einer müden Bewegung auf und unterbrach den Gedankengang Tirados. Mit schweren Schritten ging er über das im Mondlicht verblasste Mosaik auf die Stufen zu, die in den Garten führten. Dort verharrte er und wirkte plötzlich unentschlossen.

»Jess?«, fragte Tirado besorgt.

»Nicht!« Morgan schüttelte abwehrend den Kopf. Dann wischte er sich mit einer fahrigen Bewegung über das Gesicht. Sein Atem ging schwer, und Tirado konnte jeden Zug hören, mit dem er neue Luft in seine Lungen sog.

»Verzeiht meine Aufdringlichkeit, Jess. Aber offensichtlich gibt der Inhalt dieses Schriftstückes Euch Anlass zur Beunruhigung. Wenn es etwas gibt, mit dem ich Euch zur Seite stehen kann, dann bitte ich Euch, zögert nicht und …«

»Nein!« Jess fiel Tirado harsch ins Wort und blickte ihn verschlossen an. Der Sturm in seinen Augen war abgeklungen und hatte eisiger Ruhe Platz gemacht. »Es gibt nichts, mit dem Ihr mir noch zur Seite stehen könntet.«

»Dann sagt mir, was in dem Pergament geschrieben steht!«, entgegnete Tirado eindringlich.

»Dass nur ein Narr daran glaubt, dass wir einen Sieg errungen hätten und dass Menschen wie ich ihr Leben ändern könnten.« Jess lachte bitter. »Verzeiht mir, Tirado. Aber ich denke, es ist besser, wenn ich mich jetzt zurückziehe.«

Jess verbeugte sich leicht. Tirado bemerkte irritiert, wie verletzt sein Gegenüber plötzlich wirkte, und nickte besorgt.

»Natürlich. Geht und überdenkt die Nachricht in Ruhe. Mein Angebot bleibt bestehen.«

Besorgt verfolgte er, wie Jess zurück in den Palast ging. Seine Schritte hallten seltsam einsam über den steinernen Boden und waren noch zu hören, als er längst dem Blick Tirados entschwunden war.

 

*

 

Jess fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Seine Füße trugen ihn fort von Tirado, der ihn genauso verständnislos angesehen hatte, wie er sich selbst fühlte. Hatte er wirklich geglaubt, dass es so einfach werden würde? Ja, er hatte die Treasure zurück, doch Bairani lebte und die ständige Bedrohung durch ihn bestand weiterhin. Bestand für alles, was er sich erhoffte und ersehnte; bestand für jeden, der ihm etwas bedeutete und den er liebte. Bairani würde nicht ruhen, bis er ihn hatte. Es gab keine Atempause, in der er sich gemütlich zurücklehnen und den kleinen Sieg genießen konnte. Die Schriftrolle war unmissverständlich gewesen. Es blieb ihm keine Zeit!

Jetzt!

Jetzt und nicht später!

Noch nicht einmal in zwei Tagen musste er weitermachen. Bairani lauerte in den Weiten der karibischen See und schmiedete seine Pläne. Jeder Tag war ein Tag mehr, an dem der Oberste Seher an seiner Macht arbeiten konnte.

Jess blieb stehen und atmete tief ein. Er konnte es ja kaum selbst glauben. Wie sehr hatte er Tamaka auf Bocca del Torres seine Verachtung spüren lassen. Er hatte sich noch nicht einmal von ihm verabschiedet, obwohl der Seher ihm gesagt hatte, dass sie sich nie wiedersehen würden. Sein Hass auf die Manipulation von Menschen, die Tamakas Visionen dienlich waren, war zu groß gewesen. Und doch folgte er ihm nun, auf ein paar Worte hin, wie ein geduldiges Opferlamm, das nichts anderes verdiente, als am Ende vom Löwen gefressen zu werden.

Versonnen blickte er den Gang entlang, an dessen Ende der Raum lag, den man ihm und Lanea zugewiesen hatte. Jess rollte die Schriftrolle auseinander und las ein weiteres Mal die Worte Tamakas, die mit Sorgfalt aufgezeichnet worden waren und sich mit eben der gleichen Sorgfalt in sein Leben fraßen. Der Seher hatte genau gewusst, wie er reagieren würde. So, wie er alles gewusst hatte. Jess knirschte ärgerlich mit den Zähnen und ging weiter. Es hatte keinen Sinn, es weiter hinauszuzögern. Entschlossen, aber vorsichtig öffnete er die Tür. In dem Raum herrschte fast vollständige Dunkelheit. Eine einzelne Kerze brannte noch neben dem Bett und warf ihren warmen Lichtschein auf Lanea, die tief und fest schlief. Ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig, und ihre friedvolle Strömung erfüllte den Raum.

Jess trat neben das Bett, dessen schwere Vorhänge ordentlich zusammengenommen an die vier Bettpfosten gebunden waren. Lange stand er so da und betrachtete wieder einmal ihre gleichmäßigen Gesichtszüge. Wie immer überkam ihn das starke Verlangen, sie berühren zu müssen, und er hob seine Hand. Jess spürte bereits ihre Wärme, so nah war er ihr. Doch dann verharrte er. Gequält stöhnte er auf und zuckte zusammen, als das Geräusch ungewollt laut durch die Dunkelheit schwang. Die Unruhe über das soeben Gelesene machte ihn wahnsinnig. Er würde ihr so gerne davon berichten, doch das war nicht möglich. Jess atmete tief ein und sah zu seiner eigenen Überraschung, dass seine Hand leicht zitterte, als er sie wieder zurückzog.

So kurz nur, dachte er bitter, und Verzweiflung hüllte ihn ein. Er konnte nicht länger hier stehen, mit dem Verlangen ihr so nahe zu sein und doch zu wissen, dass sich ihre Wege trennen würden; trennen mussten. Entschlossen wandte er sich ab und trat auf den kleinen Balkon, der an das Zimmer grenzte. Tief atmete er die kühle Nachtluft ein, die das Meer über die Stadt sandte, und schloss die Augen. Er wünschte, dass er sich nicht so sehr darauf versteift hätte, die Monsoon Treasure zurückzubekommen. Sie alle hatten für ihn so viel gegeben und riskiert. Menschen, Freunde waren gestorben, damit er hier stehen konnte. Und jetzt war er dazu gezwungen, sie zu verraten …

Eine Änderung in Laneas Strömungen ließ ihn seine Gedanken unterbrechen.

Sie ist wach, dachte er mit einer Spur von Entsetzen, und griff nach dem schmiedeeisernen Geländer, um sich daran festzuklammern.

»Jess?«

Bei dem Klang ihrer verschlafenen Stimme richteten sich seine Nackenhaare auf. Ihre Ahnungslosigkeit bedrohte ihn auf eine Weise, dass er sich gezwungen fühlte, in Abwehrhaltung zu gehen. Vielleicht sollte er die Nacht besser auf der Treasure verbringen. Vielleicht war es besser, sich jetzt sofort von ihr zurückzuziehen, um ihrer beider Qual nicht noch zu vergrößern.

»Jess?«, wiederholte sie leise. Das leichte Rascheln der Bettdecke verriet ihm, dass sie aufgestanden war und sich ihm zögernd näherte. »Ist alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt.

»Nein!« Jess schüttelte den Kopf, bemüht seiner Stimme einen normalen Klang zu geben. »Ich kann nur nicht wirklich an Land schlafen, wie du weißt.«

»Hm, wir müssen ja nicht schlafen.« Ein verheißungsvolles Lächeln lag auf ihrem Gesicht, als sie neben ihn trat und er sie ansah. Ein Stich durchfuhr sein Herz. Etwas in ihm zerriss. Der Gedanke daran, dieses Gesicht nicht mehr wiedersehen zu können, raubte ihm für einen Moment die Stimme. Er begehrte sie so sehr, dass er seine Hände noch fester um das Geländer klammerte, um sie nicht an sich zu reißen. Lanea hatte sich nachlässig in das dünne Betttuch gewickelt und wirkte so verletzlich.

Jess stöhnte innerlich. Er konnte sie nicht verlassen, nicht heute Nacht. Er würde jeden Augenblick mit ihr auskosten und hoffen, dass ihm das die Stärke verlieh, nicht umzudrehen und vor dem wegzulaufen, was vor ihm lag.

Lanea trat näher an ihn heran und umarmte ihn, dabei rutschte das Tuch von ihren Schultern. Jess erschauerte. Es hatte keinen Sinn, er konnte sich nicht gegen sie wehren. Voll Begierde griff er mit beiden Händen nach ihrem Gesicht und senkte seine Lippen auf ihren lächelnden Mund, als könnte er nur dort Heilung für seinen Schmerz finden.

Lanea seufzte und schmiegte sich an ihn, während Jess seine Lippen an ihrem Hals hinunter wandern ließ.

»Keine Dämonen heute Nacht«, flüstere er rau und hob sie auf seine Arme, um sie zurück in das Zimmer zu tragen.

 

*

 

Als Jess Stunden später die Augen aufschlug, blinzelte er überrascht. Über sich erkannte er einen schweren, nachtblauen Betthimmel und für einen Moment konnte er nicht glauben, was er sah. Das war zweifellos das Bett aus dem Gemach, das er und Lanea im Palast für ihren Aufenthalt zugewiesen bekommen hatten. Er war an Land und hatte geschlafen! Eine Nacht an Land, voller Schlaf und ohne böse Dämonen!

Langsam drehte er seinen Kopf auf die Seite. Neben ihm breitete sich das rote Gewirr von Laneas Locken aus und verdeckte die Sicht auf sie. Sanft pustete er in ihr Haar. Vereinzelte Strähnen erhoben sich in dem warmen Strom, bevor sie federgleich auf das Kissen zurücksanken. Jess lächelte unbewusst. Es musste an ihr liegen. Sie strahlte so viel Friedlichkeit aus, dass die Dämonen seiner Taten an ihr nicht vorbei kamen. Sein Schrecken war nicht ihr Schrecken, und sie musste mit ihrer Unverdorbenheit eine Art Schutzwall um ihn gebildet haben.

Jess seufzte leise und richtete seinen Blick auf die offene Balkontür. Der Morgen graute bereits. Die Sonne warf ihre milden Strahlen in das Zimmer und brachte einen neuen Tag mit sich, der keine Hoffnung in sich trug. Mit einem Schlag war das dumpfe Gefühl wieder da, mit dem er gestern Nacht den Raum betreten hatte. Er schluckte hart und setzte sich vorsichtig auf. Leise schlug er die Decke zurück und achtete sorgfältig darauf, Lanea durch seine Bewegungen nicht zu stören. Sein Herz schlug heftig, als er sich erhob, seine Kleidung nahm und sich eilig ankleidete. Er wollte nur noch fort von hier und konnte doch nicht den Blick von Laneas Körper wenden, der sich entspannt unter der dünnen Decke abzeichnete. Jess schlüpfte in seine Stiefel, sein Herz hämmerte inzwischen in seiner Brust, als hätte er einen anstrengenden Lauf hinter sich. Dann band er sich mit gehetzten Bewegungen sein Schwert um und dachte nur daran, so schnell wie möglich aus Laneas Gegenwart zu flüchten. Trotzdem trat er ein letztes Mal an ihr Bett und warf einen sehnsüchtigen Blick auf sie.

»Ich liebe dich«, flüsterte er, und seine Stimme kam ihm seltsam tonlos vor.

Jess ballte die Hände zu Fäusten, um sie nicht doch noch nach ihr auszustrecken. Er konnte ihren Anblick kaum ertragen, in dem Wissen, dass er sie hier zurückließ, ohne ein Wort und für immer.

Entschlossen wandte er sich ab und ging auf die Tür zu. Er fühlte sich steif und musste sich eisern zu jedem Schritt zwingen. Tief atmete er ein, als seine Hand nach der Tür griff und sie öffnete. Der Wunsch in ihm war übermächtig, einfach umzudrehen, zu ihr zu gehen und sie zu wecken. Es brauchte nur ein einziges Wort von ihr, und er würde nicht die Kraft haben, zu gehen.

Halt mich zurück, dachte er verzweifelt und schritt dennoch hinaus auf den schwach beleuchteten Gang mit der schrecklichen Gewissheit, das Wertvollste in seinem Leben in diesem Raum einfach so zurückzulassen.

Ein einzelner Diener saß auf einem Hocker neben der Tür und blinzelte ihn überrascht an. Auf seinen Augen saß noch der trübe Schleier, den der Schlaf darübergelegt hatte. Schuldbewusst sprang der dicke Mann auf und zupfte seine schlecht sitzende Jacke zurecht.

»Verzeiht, Señor! Habt Ihr einen Wunsch? Ich bitte um Entschuldigung für meine Unachtsamkeit, aber ich habe Euch nicht rufen hören.«

Als ob du mich im Schlaf gehört hättest, dachte Jess leicht verächtlich. Die Stimme des jungen Mannes hatte beinahe weinerlich geklungen, als fürchtete er eine Strafe. Jess schüttelte den Kopf, und augenblicklich entspannte sich das rundliche Gesicht.

»Nein, ich habe nicht nach Euch gerufen. Ich wollte lediglich an die frische Luft«, erwiderte Jess und ging an dem Diener vorbei, der sich schulterzuckend wieder auf seinen Stuhl fallen ließ.

Jess ging, ohne einen weiteren Gedanken an ihn zu verschwenden, den Gang hinunter. Der dicke Teppich, der über die gesamte Länge des Ganges ausgelegt war, schluckte den Klang seiner schweren Stiefel, und er hoffte inständig, sich so unbemerkt davon stehlen zu können.

Alles war ruhig, einzelne Öllampen verbreiteten ein angenehmes Licht, das gerade so viel aus der Dunkelheit riss, dass er seinen Weg erkennen konnte. Als er die große Halle erreichte, verharrte er kurz. Sein Herz jagte immer noch schuldbewusst, und er holte tief Luft. Auch die Halle lag noch im Schlaf und verbarg ihre wahre Pracht wie eine schüchterne Dame hinter einem Fächer aus Schatten. Jess sah sich um. Die Stühle, die an den Seiten aufgereiht waren, konnte er jetzt nur erahnen. Der Teppich, der bisher seine Flucht gedeckt hatte, endete hier, und zu seinen Füßen lag kalter Marmorboden. Wieder machte Jess einen tiefen Atemzug und ging entschlossen auf die große, doppelflügelige Eingangstür zu. Das Klacken seiner Stiefelabsätze hämmerte dabei nachhaltig gegen sein Gewissen. Als er zwischen zwei hohen Säulen hindurch schritt, die zusammen mit anderen in der Halle verteilten Säulen die prunkvoll verzierte Decke trugen, erklang plötzlich eine gelassene Stimme: »Ich frage mich, was es ist, das Euch derart in Bedrängnis bringt, mein Haus heimlich wie ein Dieb in der Nacht zu verlassen?«

»Ihr vergesst, was ich bin, Tirado. Nämlich genau das – ein Dieb und ein Mörder!«, antwortete Jess tonlos und begegnete herausfordernd dem Blick des Gouverneurs, der gelassen aus dem Schatten einer Säule trat. »Ich kehre lediglich zu dem zurück, was ich am besten kann.«

»Und dennoch besitzt Ihr mehr Ehre im Leib als die meisten hochwohlgeborenen Herren, die mein Haus aufsuchen.« Der Gouverneur runzelte nachdenklich die Stirn. »Tamaka scheint wirklich große Macht über Euch zu besitzen, und dies noch über seinen Tod hinaus. Das ist wirklich interessant, und ich hätte es wohl nicht geglaubt, wenn ich es jetzt nicht mit eigenen Augen sehen würde.« Tirado schob seine Gestalt zwischen Jess und dem Ausgang. »Meint Ihr nicht, es ist ein Fehler, noch nicht einmal meine Hilfe in dieser Sache, wie auch immer sie jetzt aussehen mag, zu überdenken? Warum seid Ihr Euch so sicher, dass der Seher Recht hat, mit dem, was er Euch rät?«

»Bisher sind leider seine Vorhersagen ziemlich genau eingetroffen. Ohne seine Hinweise hätte ich die Treasure nicht zurückerhalten.«

»Was habt Ihr jetzt vor? Direkt nach Waidami segeln, und Lanea lasst Ihr einfach hier zurück? Es ist nicht zu übersehen, was Ihr für diese Frau empfindet, mein Freund. Und dennoch geht Ihr, ohne ein Wort?«

Jess betrachtete Tirado aus schmalen Augen. Der Gouverneur sah ihn mitleidig an, als wüsste er um die Verzweiflung, die in Jess tobte.

»Wenn Ihr der Freund seid, wie Ihr es so sehr betont, dann erbitte ich einen Gefallen von Euch, für den ich Euch nicht mehr anbieten kann, als meinen aufrichtigen Dank.«

»Ich bitte Euch, sprecht. Ich erwarte nichts von Euch, außer dem Versprechen, Euer Ziel nicht aus den Augen zu lassen, denn sonst fürchte ich, ist der Preis, den Ihr hier und heute zahlt, zu hoch.«

Jess wollte gerade antworten, als ihn etwas innehalten ließ, und er drehte sich um, um in den Gang zu blicken, aus dem er gerade erst gekommen war.

 

*

 

Lanea erwachte mit einem Gefühl der Ruhe, die sie in den letzten Wochen und Monaten nicht mehr gekannt hatte. Immer war ein dumpfes Loch in ihrem Inneren gewesen, das sich auch nicht mit der Fülle der vergangenen Ereignisse hatte stopfen lassen.

Glücklich seufzte sie an die Erinnerungen der letzten Nacht und tastete mit der linken Hand über das Bett, um Jess zu fühlen. Doch ihre Hand tastete ins Leere, und Lanea setzte sich abrupt auf.

»Jess?«, fragte sie in die Leere des Raumes und ihr Herz klopfte von einem Augenblick auf den anderen in ihrer Brust, als wollte es sie mit Gewalt darauf aufmerksam, was sie bereits ahnte. Verwirrt sah sie sich in dem Zimmer um, das langsam von dem aufwachenden Tag aus der Dunkelheit geholt wurde und offenbarte, was ihr Herz verzweifelt zu sagen versuchte.

Jess war nicht da.

Mit einem Schlag war das Loch wieder da und löschte das kurze Glück aus, als wäre es nie da gewesen.

Sicher war er nur gegangen, um auf der Treasure zu schlafen. Doch eine böse Ahnung zwang sie, aufzustehen. Lanea dachte nicht weiter darüber nach. Sie griff nach dem Kleid, das sie gestern über der Kleidertruhe ausgebreitet hatte, schlüpfte rasch hinein und raffte den Stoff vor ihrem Körper zusammen. Dann fuhr sie sich eilig durch ihre langen Haare und eilte auf nackten Sohlen zur Tür und riss sie auf. Der Diener, der neben der Tür auf einem Stuhl gesessen hatte, fiel vor Schreck beinahe zu Boden. Im letzten Augenblick fing er den Sturz ab und stand auf. Erschrocken starrte er sie an.

»Verzeiht, Señora, was kann ich für Euch tun?«

»Ist Señor Morgan vorbei gekommen?«, fragte sie außer Atem und schalt sich gleichzeitig eine Närrin. Als ob Jess durch das Fenster gestiegen wäre.

»Er ist den Gang hinunter gegangen. Der Señor wollte an die frische Luft.« Der Mann zeigte in die Richtung, die geradewegs in die große Eingangshalle führte.

Laneas dunkle Vorahnung warf sich wie ein Mantel über sie und erstickte ihr Herz.

Er geht! Er geht, schrie es in ihr, und sie rannte los.

 

*

 

Laneas Strömung traf Jess ungebremst mit der Wucht einer Explosionswelle und ließ ihn aufkeuchen. Sie war wach und ahnte zweifellos, dass etwas nicht stimmte. Gehetzt wandte er sich wieder Tirado zu, der ihn fragend ansah.

»Kümmert Euch um Lanea!«, stieß er hervor und schob den überraschten Gouverneur beiseite. »Mir bleibt keine Zeit, es tut mir leid.«

Er musste fort, bevor sie ihn erreichen konnte. Ihre Strömung war bereits kaum zu ertragen, die sich an ihn klammerte und mit ihrer ganzen Verzweiflung auf ihn einschlug.

Tirado sah ihn enttäuscht an. Doch der Enttäuschung wich Mitleid, als die laufenden Schritte immer näher klangen, die Laneas Kommen ankündigten, und Tirado begriff. Langsam nickte er Jess zu und ergriff dessen Rechte.

»Lebt wohl. Es wird ihr an nichts mangeln.«

Jess atmete tief ein und erwiderte den Händedruck. Er begegnete dem aufrechten Blick seines Freundes.

»Habt Dank, mein Freund«, sagte er rau und rannte auf den Ausgang zu.

»Jess!«

Der Ruf traf ihn wie eine Musketenkugel, die hinterhältig auf seinen Rücken abgeschossen worden war und sein Innerstes zerriss. Jess ignorierte den Schmerz und passierte den Ausgang. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe hinunter, an deren Fuß überraschenderweise ein Diener mit einem Pferd auf ihn wartete. Beide wirkten müde und sahen Jess verschlafen entgegen.

»Guten Morgen, Señor! Der Gouverneur entbietet Euch seine besten Wünsche und die Bitte, diese kleine Aufmerksamkeit anzunehmen.« Der Mann richtete seine Gestalt ein wenig auf, als hätte er sich besonnen, doch noch Haltung anzunehmen.

»Danke!«, antwortete Jess knapp und ergriff die Zügel, die der Diener ihm reichte. Er zögerte kurz und fuhr fort, während er sich in den Sattel schwang: »Richtet dem Gouverneur gleichfalls eine Bitte von mir aus: Er möge mir bei unserer nächsten Begegnung aus dem Weg gehen. Wir stehen nicht wirklich auf derselben Seite.«

Eilig schwang er sich in den Sattel und trieb das Pferd an. Ohne einen Blick zurück, lenkte er es in einem zügigen Trab auf die Straße in Richtung Hafen. Das laute Klappern der Hufe erfüllte mit seinem eiligen Rhythmus den Morgen. Die Häuser glitten mit ihren dunklen Fensterhöhlen an ihm vorbei. Langsam erwachte das Leben in den Straßen, und die ersten Männer und Frauen liefen umher. Doch Jess nahm sie nicht wahr. Sah nur den Weg, der ihn fort von Lanea und hin zu seinem Schicksal führte. Mit seinen letzten Worten hatte er die Brücke in dieses andere Leben eingerissen, und er war sicher, dass es damit kein Zurück mehr für ihn gab.

Jess atmete auf, als er den Hafen erreichte und sein Blick auf die Monsoon Treasure fiel, die friedlich und unversehrt an der Pier lag. Ein Piratenschiff, Seite an Seite mit den spanischen Schlachtschiffen. Ein seltsamer Anblick, den er wohl so nie wieder sehen würde. Für ihn selbst hielt das Ende von Tamakas Vision nichts Gutes bereit, das hatte ihm der Seher damals auf Bocca del Torres nicht verschweigen können. Trotzdem würde er heute der Vision folgen, was blieb ihm anderes übrig, als es wenigstens zu versuchen. Schließlich waren Visionen nur Möglichkeiten. Wenn er den Tod fand, war Lanea nun wenigstens in guten Händen, und wenn er das Ganze überstand, würde er zurückkehren und hoffen, dass sie ihm seine Fehler vergab.

Jess verhielt das Pferd, das leise schnaubte. Auf der Treasure löste sich eine Gestalt aus den Schatten und trat langsam an die Fallreeppforte.

»Captain!« Dan grinste ihn breit an. In seinem Gesicht standen die Spekulationen, warum sein Captain wohl nicht an Bord seines Schiffes geschlafen hatte.

»Guten Morgen, Dan.« Jess sprang ab und wickelte die Zügel eilig um einen Poller. Dann ging er mit langen Schritten über die Laufplanke an Bord. »Weck die Männer, Dan. Wir stechen unverzüglich in See.«

Jess ignorierte das verdutzte Gesicht Dans und ging zum Achterdeck. Dort stellte er sich mit vor der Brust verschränkten Armen an die Balustrade und sah über den Hafen. Noch lag leichter Frühnebel auf der Wasseroberfläche, der jedoch von den rasch kräftiger werdenden Strahlen der Sonne verbrannt wurde und damit die letzten Zeugen der kühleren Nacht vertrieb.

Es dauerte nicht lange, bis die ersten Männer das Deck betraten. Eilig rückten sie ihre Kleidung zurecht und versammelten sich neugierig auf dem Hauptdeck. Jintel war unter ihnen und nickte erstaunt, als Dan ihm den Befehl des Captains weitergab. Doch sofort straffte sich seine Gestalt, und seine kräftige Stimme erscholl: »Auf eure Stationen, ihr verschlafenes Gesindel! Macht, dass ihr auf die Beine kommt!«

Cale kam den Niedergang herauf und sah ihn ernst an. Die Fragen, die ihn beschäftigten standen ihm ins Gesicht geschrieben, aber er grüßte Jess nur knapp und stellte sich dann abwartend neben ihn. Jess nickte ihm zu und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Männer, die eilig den Befehlen Jintels Folge leisteten.

»Klar bei Vor-und Achterleine!«, hörte er seinen Profos rufen und ignorierte die Antworten von Kadmi und Sam, die die Leinen lösten.

Inzwischen waren alle Mann an Deck und hatten ihre Positionen eingenommen. In ihren Gesichtern spiegelte sich Neugier, und Kadmi tuschelte leise mit N’toka, der sich leicht zu dem wesentlich kleineren, jungen Mann hinunterbeugte, um ihn verstehen zu können. Doch niemand stellte offen die Frage, die sie alle beschäftigte. Jess räusperte sich und wartete, bis Fock- und Großsegel gesetzt waren und die Monsoon Treasure auf die Hafenausfahrt zuhielt. Dann umfasste er das glatte Holz der Balustrade und sah über Deck. Die Männer hielten in ihrer Arbeit inne, als ob sie spürten, dass Jess ihnen etwas Wichtiges mitteilen wollte.

»Wir alle sind in diesen Hafen eingelaufen mit der Hoffnung, hier ein wenig Ruhe finden zu können, bevor wir uns in die nächste Schlacht werfen.« Jess machte eine Pause und wusste zum ersten Mal nicht, welche die richtigen Worte waren. »Wir dachten, wir haben einen Sieg errungen, und ich habe, dank eurer Hilfe, die Monsoon Treasure zurückerobern können. Doch in Wirklichkeit scheint Bairani immer stärker zu werden! Gestern erhielt der Gouverneur die Kunde, dass die Waidami eine kleine Küstenstadt überfallen haben und dort ausnahmslos jeden töteten. Beinahe gleichzeitig wurde von ihnen ein Kloster angegriffen. Dieser Überfall konnte jedoch glücklicherweise zurückgeschlagen werden. – Ihr seht also, dass wir nicht wirklich einen Sieg errungen haben. Offensichtlich haben wir sie mit der Schlacht um die Silberflotte noch nicht einmal empfindlich getroffen. Sie müssen inzwischen so viele Schiffe gebaut haben, dass sie mit ihnen die Gewässer förmlich überschwemmen.« Jess machte eine Pause, in der ein entsetztes Raunen durch die Mannschaft ging. »Es ist keine Frage, ob sie uns finden werden und uns vernichten, es ist sicher, dass sie es tun werden. Im Augenblick haben wir aber noch Handlungsspielraum und die Möglichkeit selbst die Entscheidung zu treffen, wann dies sein wird und wie viel Zerstörung sie in dieser Zeit noch anzurichten vermögen.« Jess richtete sich nun kerzengerade auf, mit dem Bewusstsein, dass die Männer wie gebannt an seinen Lippen hingen. »Mein Ziel ist es weiterhin, den Obersten Seher zu vernichten. Aber es gibt nur einen Weg, nahe genug an ihn heranzukommen. Nur wenn er davon überzeugt ist, dass ich auf seiner Seite stehe, dass ich sein Verbündeter bin, wird er seine Aufmerksamkeit irgendwann vernachlässigen, und das wird der Augenblick sein, in dem ich ihn töte. – Ich werde mich also den Waidami wieder anschließen.«

Cale sog scharf die Luft ein und starrte Jess verständnislos an, der ihn ignorierte und sich wieder an die Mannschaft wandte: »Ich werde dies alleine tun. Allerdings kann ich die Monsoon Treasure nicht alleine segeln. Das Einzige, was ich von euch erwarte, ist, dass ihr mich nach Bocca del Torres segelt. Ihr werdet mit einem anderen Schiff die Insel verlassen, sobald die Treasure vor Anker liegt. Die Waidami werden mich dort wenige Tage später finden und mitnehmen.«

Minutenlang geschah nichts. Keiner der Männer sagte ein Wort. Mit bleichen Gesichtern sahen sie zu ihm auf, unfähig ihren Unglauben in Worte zu fassen.

»Das ist Wahnsinn! Das kann nicht dein Ernst sein, Jess«, keuchte Cale. »Wie kommst du auf so einen irrsinnigen Plan? Was denkst du, werden die Waidami mit dir anstellen, wenn sie dich ein weiteres Mal in ihre Finger bekommen? Warum sollten sie es zulassen, dass du dich ihnen anschließt?« Cale war wütend und ballte hilflos die Fäuste.

Jess hob eine Augenbraue und begegnete kühl dem Blick seines Freundes. Innerlich seufzte er. Er hatte befürchtet, dass Cale sich nicht so einfach auf dieses Vorhaben einlassen würde.

»Meine Entscheidung steht fest. Du kannst mich nicht aufhalten.«

»Aber ich kann es versuchen, Jess!« Cale ging mit zornesrotem Gesicht auf die Balustrade zu und stellte sich so, dass jeder an Bord gute Sicht auf ihn hatte. »Ist es wirklich das, was ihr wollt? Wollt ihr dem irrationalen Befehl folgen und euren Captain den Waidami als Geschenk überreichen? Diese Idee beruht doch nur wieder auf eine dieser wahnwitzigen Visionen und entbehrt doch jeder Grundlage. Warum sollte Bairani Jess jemals wieder als Verbündeten akzeptieren? Sie werden ihm nur erneut die Treasure aus der Brust schneiden und all das, wofür wir bisher gekämpft haben, war umsonst. Denkt nach Männer! Ich kann nicht tatenlos zusehen, wie Jess sich selbst ausliefert, und fordere euch daher auf, ihm nur dieses eine Mal den Gehorsam zu verweigern!«

Jess hörte seinem Ersten Maat mit eisiger Ruhe zu, dessen Stimme immer beschwörender geworden war. Dann sah er zu Jintel, Dan, McPherson und den anderen hinüber. Unsicher wanderten ihre Blicke zwischen Cale und ihm hin und her. Ihre Strömungen waren zwiespältig und fegten wie ein Wirbelsturm umher, der nicht wusste, welche Richtung er einschlagen sollte.

Cales Strömung war gleichfalls ein Sturm, getragen von der Verzweiflung und dem Wissen, das Kommende nicht aufhalten zu können. Jess holte tief Luft und bereute bereits jetzt, was gleich folgen würde.

»Jeder von euch hat bereits mehrfach getötet, um sein eigenes Leben oder das eines Freundes zu retten und jeder von euch wäre dazu bereit, für einen Freund zu sterben. Ihr könnt mir nicht verwehren, dass ich dieses Risiko eingehen will. Wir werden ständig über die Schulter sehen müssen, ob nicht irgendwo am Horizont ein Segel der Waidami auftaucht. Das ist wohl kaum das, was wir für den Rest unseres Lebens wollen. – Alles, was ich von euch verlange, ist diesem letzten Befehl zu folgen. Danach sucht euch ein neues Schiff und einen neuen Captain.« Jess verstummte und wartete ab. Die Männer nickten langsam, und der Wirbelsturm ihrer Gefühle schlug eine eindeutige Richtung ein. Sie waren nicht ruhiger in Anbetracht der Ankündigung geworden, doch sie verstanden ihn und standen hinter ihm – wieder einmal.

»Ich kann dir dabei nicht zusehen, Jess. Verzeih.« Cales Stimme war nun leise. Auch ihm war die Reaktion der Crew nicht entgangen, und er wusste, dass er auf verlorenem Posten stand. Langsam glitt seine Hand zu der Steinschlosspistole, die in seinem breiten Gürtel steckte.

Jess schluckte, als ihn Cales Entschlossenheit traf.

»Ich weiß! Auch mir tut es leid«, entgegnete er ebenso leise und tiefe Trauer erfüllte ihn. »Und ich kann nicht zulassen, dass du mich aufhältst, mein Freund.«

Als Cale die Pistole herausriss, griff Jess zu. Mit der einen Hand packte er ihn am Handgelenk und versetzte ihm mit der anderen einen schweren Schlag unter das Kinn. Die Pistole fiel klappernd auf die Planken, und Cale wurde ein Stück zurückgeworfen. Mit einem ächzenden Laut krachte er gegen die Reling und rutschte benommen an ihr herunter.

Jess war mit einem Satz bei ihm und zerrte ihn wieder auf die Beine.

»Du lässt mir keine andere Wahl, Cale«, sagte er ruhig und gab seinem Ersten Maat einen kräftigen Stoß. Mit ungläubig aufgerissenen Augen fiel dieser rücklings über die Reling.

Erstarrtes Schweigen in Jess‘ Rücken folgten dem lauten Klatsch, als Cale im Wasser aufschlug. Jess beugte sich nach vorne und atmete erleichtert auf, als der Kopf seines Freundes kurz darauf prustend aus dem Wasser auftauchte.

Wütend sah Cale zu ihm hoch.

»Du bist ein verdammter Idiot, Jess Morgan! Das ist ein Fehler, du wirst sehen!«

»Spar dir deinen Atem. Bis zur Pier zurück ist es noch ein ganzes Stück, Cale. Such den Gouverneur auf, er wird dir helfen.« Jess richtete sich auf. Sein Blick glitt zurück zum Hafen. Die Monsoon Treasure segelte gerade unter den Kanonenmündungen der östlichen Festungsanlage hindurch und würde gleich das offene Meer erreichen. Es war ein weites Stück zu schwimmen, aber Jess hatte keinen Zweifel daran, dass Cale die Strecke bewältigen würde.

»Leb wohl, mein Freund«, setzte er leise hinzu. Wieder hatte er eine Brücke eingerissen und mit dem Gefühl, dass die Verfolgung seiner Ziele doch so viel mehr als Preis forderte als nur sein Leben, nahm er wieder seinen Platz auf dem Achterdeck ein.

»Kurs Bocca del Torres, Männer!«, sagte er entschieden und lauschte den Strömungen seiner Männer, die ihm zum ersten Mal von ihren Zweifeln erzählten, ob er gerade das Richtige tat.

 

*

 

Lanea ließ die Schriftrolle sinken und schloss ergeben die Augen.

Bei den Göttern, dachte sie verzweifelt und konzentrierte sich auf den Rhythmus ihrer Atmung, in der Hoffnung, sich so an die reale Welt um sie herum klammern zu können und nicht den Verstand zu verlieren. Konnten sie denn niemals wieder Ruhe finden? Sie konnte es einfach nicht glauben, was sie gerade gelesen hatte. Aber es erklärte den überstürzten Aufbruch von Jess und zerriss ihr Herz.

Jess hatte sich nicht einmal umgedreht, als sie ihn gerufen hatte. Nein, sie hatte nicht gerufen. Sie hatte seinen Namen geschrien und damit beinahe die gesamte Dienerschaft auf den Plan gerufen. Tirado war bereits dort gewesen, und sie war ihm geradewegs in die Arme gelaufen, mit denen er sie zurückgehalten hatte.

Tirado!

Lanea öffnete die Augen und begegnete dem teilnahmsvollen Blick des Gouverneurs. Doch unmittelbar hinter seinem Mitgefühl drängte sich die Ungeduld hervor und legte sich auf seinem gutaussehenden Gesicht nieder. Er hoffte unverkennbar darauf, endlich von ihr den Inhalt der Schriftrolle erfahren zu können. Doch Cristobal Tirado y Martinez war nicht der Mann, der dieser Regung nachgeben würde und sie in der gegenwärtigen Situation zu irgendetwas drängte. Seine Hände ruhten also entspannt auf den Armlehnen seines Stuhles. Seine langen Beine hatte er lässig von sich gestreckt und vermittelte den Eindruck, dass er eine zwanglose Gesellschaft genoss.

Lanea seufzte leise, und ihr Gegenüber hob unmerklich eine Augenbraue.

»Möchtet Ihr, dass ich Euch das Schreiben übersetze?«

»Ich möchte wirklich nicht ungeduldig erscheinen, angesichts der Situation, in der Ihr Euch momentan befindet, aber – ja – ich wäre Euch zutiefst dankbar, wenn Ihr mir den Inhalt offenbaren könntet.« Tirado hatte seine Beine eingezogen und sich aufrecht hingesetzt. Aufmunternd lächelte er sie an. »Ich weiß, dass es sehr schmerzlich für Euch sein muss.«

Lanea presste die Lippen fest aufeinander und nickte. Sanft streichelte sie mit den Fingerspitzen über die Schriftzeichen. Die letzten Überbleibsel eines Lebens, das von der Besessenheit seiner Visionen gezeichnet war und deren Intensität auch überdeutlich zwischen den Worten dieses Schriftstückes lag. Lanea verweilte einen Moment, in dem sie die Gegenwart Tirados fast vollständig vergaß. Erst als auf ein leises Klopfen hin ein Diener eintrat und dem Gouverneur verstohlen etwas zuflüsterte, fand sie wieder zurück in das Hier und Jetzt.

Tirado bedachte sie mit einem merkwürdigen Blick und erhob sich elegant aus seinem Stuhl.

»Entschuldigt mich bitte einen Augenblick. Es wird nicht lange dauern.« Dann folgte er dem Diener, der mit teilnahmslosem Gesicht an der Tür wartete, dass sein Herr ihm folgte.

Was mochte so dringend sein, dass der Gouverneur seine Neugierde vergaß und sie alleine zurückließ? Unentschlossen stand sie auf und trat an das große Fenster, das den Blick auf den Garten freigab, dessen Springbrunnen sie bei ihrem ersten Besuch so fasziniert hatte. Doch jetzt empfand sie das Rauschen der beständigen Wasserfontäne als störend und verschwenderisch. Eine überflüssige Spielerei, die oberflächlich eine heile Welt vorgaukelte, in der es eben nicht nur um Spiel, sondern um Leben und Tod ging. Düster betrachtete sie die Palmen, die um den Brunnen herum gepflanzt waren. Zorn stieg in ihr auf, doch die Tür wurde wieder geöffnet und riss sie aus ihren Gedanken.

»Ich muss Euch nochmals um Verzeihung bitten, Lanea. Ich werde Euch gleich von den Nachrichten, die ich erhalten habe, berichten, doch ich möchte zunächst auf das Schriftstück zurückkommen, wenn Ihr gestattet.«

Lanea nickte und hob das Schriftstück, das sie immer noch in Händen hielt. Nervös fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen und begann:

»Jess, mein Sohn!

Ich kann nicht umhin, diese Anrede für Dich zu verwenden, auch wenn ich weiß, dass Du es, nein, dass Du mich verabscheust. Aber dieses Wort verleiht dem Ausdruck, was ich für Dich empfinde; was ein Vater für seinen Sohn empfindet, mit all seinen Sorgen und seinem Stolz.« Lanea hielt mit zitternder Stimme inne und rang um Fassung. Ihre Kehle schnürte sich bei jedem Wort weiter zu, und sie räusperte sich mehrfach, bevor sie weiterlas: »Wenn Du dieses Schriftstück erhältst, befindet ihr euch, Du, Lanea und die Crew in Sicherheit, und die Monsoon Treasure ist wieder ein Teil von Dir. Doch der Sieg ist kein wirklicher Sieg. Gerade habt Ihr von dem Überfall auf die Abtei von Santo Domingo und auf Puerto Cabballas erfahren, u  nd das wird nicht alles sein, was die Waidami in naher Zukunft zerstören werden. Jedes erreichbare Kloster wird vernichtet werden, denn die Waidami wollen keine Religion neben der ihren dulden. Keine Küstenstadt, kein Fischerdorf, selbst Cartagena wird sicher sein, wenn es mir nicht gelingt, Dich davon zu überzeugen, dass meine Vision kein Hirngespinst ist und Du der Schlüssel zur Vernichtung Bairanis bist. – Du hast mich auf Bocca del Torres gefragt, ob Du am Ende frei sein wirst, und ich habe Dir nicht geantwortet. Die Antwort darauf geht über meine Kräfte. Es gibt keine Gewissheit, denn wie Du weißt, sind die Visionen letztendlich nur Möglichkeiten, doch ich sehe auch jetzt nur ein Ende voller Leid und Schmerz.« Laneas Stimme versagte abrupt. Sie hatte den Text doch schon gelesen und wusste genau, was darin stand. Wieso konnte sie nicht einfach vorlesen, ohne mit den Tränen kämpfen zu müssen? Ihr Blick verschleierte sich und sie wischte sich hastig über die Augen. Reiß Dich zusammen, ermahnte sie sich und holte tief Luft: »Dein Ende wird von dem gleichen Fluss gespeist wie Dein Leben; er ist voller Steine und Untiefen. Die Angst davor, Einzelheiten zu nennen und Dich damit dazu zu verleiten, die falschen Entscheidungen zu treffen, ist einfach zu groß. Alles wäre gefährdet! Aber mein Freund Durvin, der ebenfalls ein Seher ist und der Überbringer dieser Nachricht, wird Dich, soweit es in seiner Macht steht, unterstützen und über Dich wachen. Doch manche Dinge sind leider unvermeidbar auf dem Weg, der vor Dir liegt. Jess, es fällt mir schwer, denn ich weiß, was ich von Dir verlange, aber verlasse unverzüglich Cartagena und begib Dich nach Bocca del Torres. Waidami-Schiffe werden an der Insel patrouillieren und Dich dort finden und gefangen nehmen. Auch wenn es Dir unwahrscheinlich erscheinen mag, aber Bairani will Dich und braucht Dich, um seine Macht und seinen Schrecken in die Karibik zu tragen. – Ein Weg, der unglaublich viel verlangt und doch ist der andere Weg, der Dir offensteht, nicht weniger leidvoll. Schon bald ist die Übermacht der Waidami so groß, dass der spanische Gouverneur gezwungen ist, Hilfe aus Spanien zu erbitten. Doch keinem seiner Schiffe wird der Durchbruch gelingen und die so dringend benötigte Hilfe wird nicht eintreffen. Die spanischen Schiffe werden zum größten Teil vernichtet und selbst Cartagena wird fallen. Danach gibt es niemanden mehr, der sich noch gegen die Waidami stellen könnte. Lanea wird, wie unzählige andere, bei einem Angriff ums Leben kommen, und Du bleibst gebeugt unter der Last des Wissens zurück, dass Du dies hättest verhindern können. – Erneut meine Bitte, mein Flehen, verlasse auf der Stelle Cartagena. Nur, wenn Du Dich dem Willen Bairanis unterwirfst, wird Dir auf diesem Weg ein Mensch begegnen, der das Schicksal zu unseren Gunsten wenden wird, und nur so wird Dir die Gelegenheit verschafft werden, Bairani zu töten. – Mit einem Gewissen, das voller Schuld auf Dein Leben blickt, erbitte ich Deine Vergebung – Tamaka« Laneas Stimme wurde bei den letzten Worten immer leiser. Dann ließ sie die Rolle kraftlos sinken. Ihre Augen brannten so sehr, dass die Tränen dahinter unter dem Schmerz einfach versiegten.

Tirado räusperte sich leise, nahm Lanea behutsam die Schriftrolle ab und legte sie beiseite.

»Er hatte keine Wahl …«

Seine Berührung war angenehm tröstlich, als er seine Hände um ihre schloss und sie aus seinen warmen, braunen Augen ansah.

»Es tut mir leid, Lanea.« Die Stimme des Gouverneurs legte sich wie ein weicher Verband über ihre frische Wunde und milderte den Schmerz, der dennoch da war und pochte wie bei einer Entzündung. »Jess musste gehen, und er musste Euch zurücklassen. Unmöglich kann er Euch dem aussetzen, mit dem er jetzt rechnen muss. Eins muss ich Eurem Vater lassen, Lanea, er hat sehr geschickt seine Worte gewählt und Jess damit in eine Ecke gedrängt.« Sanft, aber bestimmt, führte er Lanea zu der Sitzgruppe vor dem Kamin und deutete ihr, sich zu setzen. »Ich hatte ja bisher immer so meine Zweifel an diesen Visionen, aber es entbehrt jeder logischen Erklärung, dass Euer Vater von den Überfällen bereits wusste. – Ich gebe es ungern zu, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass seine Visionen anscheinend doch erschreckend zutreffend sind.« Tirado rieb sich nachdenklich über das Kinn und richtete seinen Blick aus dem Fenster. »Ihr seid nicht die Einzige, die Jess zurückgelassen hat.« Er nickte dem Diener zu, der unauffällig eingetreten war und jetzt sofort wieder durch die Tür verschwand.

»Wer ist noch …« Das erneute Öffnen der Tür unterbrach Lanea, und sie sah sich überrascht um. »Nein!«, rief sie und hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.

»Doch!« Cale nickte zynisch, während er auf sie zukam. Seine Haltung zeugte von unterdrückter Wut und war so untypisch für den sonst so gelassenen Mann. »Jess hat mich eigenhändig über Bord geworfen, als ich mich geweigert habe, seinem unsinnigen Plan blind zu folgen.«

 

*

 

Tirado deutete auf den Platz neben Lanea. Cale setzte sich dankbar in den weichen Sessel, und Lanea ergriff stumm seine Hand. Ihr Mund war völlig ausgetrocknet. Jess hatte Cale über Bord geworfen? Sie konnte es nicht glauben, aber seine dunklen Haare schimmerten noch feucht, und er trug Kleidung, die sie nicht kannte.

»Lanea, wäret Ihr ein weiteres Mal so freundlich, das Schreiben Eures Vaters vorzulesen?«

Lanea nickte Tirado langsam zu und nahm das Pergament entgegen, das er ihr reichte.

»Ein Schreiben Tamakas?« Cale sah sie verwundert an.

Zögernd nickte sie erneut. Erst jetzt fiel ihr auf, wie erschöpft Cale wirkte, und sie fragte sich, wie weit er hatte schwimmen müssen. Jess schien völlig unberechenbar geworden zu sein. Was mochte bloß in ihm vorgehen?

Erneut las sie den Text mit leiser und tonloser Stimme vor, doch diesmal ließ sie die Bedeutung der Worte nicht in ihr Bewusstsein dringen. Als sie endete, rang sie nach Atem wie nach einer großen Anstrengung.

Tirado musterte Cale, der Lanea anstarrte und immer wieder den Kopf schüttelte.

»Ich kann es nicht glauben.« Cale drückte Laneas Hand.

»Und doch hat die Vergangenheit gezeigt, dass diese Visionen ernst zu nehmen sind. – Die Frage ist, wie leisten wir unseren Beitrag dazu?«

»Ich weiß nicht, ob ich bereit dazu bin, einen Beitrag zu leisten. Jess hat sehr deutlich gezeigt, dass er kein Interesse an meiner Hilfe hat.« Cale schloss verbittert und verschränkte die Arme vor der Brust. Lanea betrachtete ihn erstaunt. Er wirkte wie ein beleidigtes Kind, das die anderen beim Spielen nicht dabei haben wollten. Sie fühlte sich ähnlich. Jetzt, in diesem Augenblick wollte sie nichts anderes als nur fort. Weit fort von diesem Ort, an dem sie sich dummerweise zuerst sicher und glücklich gefühlt hatte; weit fort vom Meer, das trotz seiner unendlichen Möglichkeiten doch Schuld an all ihrer Qual hatte. Das Meer, die Schiffe und das Land, das es zu erobern und zu besitzen galt.

Tirado nickte langsam. »Ich verstehe Eure Entscheidung, Señor Stewart. Bedauerlicherweise steht mir diese Freiheit nicht zu. Ich bin für diesen Teil der Neuen Welt verantwortlich und kann nicht zulassen, dass die Waidami das Volk tyrannisieren und sich das Vermögen aneignen, das dem spanischen König zusteht.« Der Gouverneur betrachtete nachdenklich Lanea. Sie saß wie erstarrt in dem Sessel und umklammerte immer noch das Schreiben. Gedankenverloren strich sie über die geliebte Handschrift. »Ich musste Jess versprechen, für Euch Sorge zu tragen, Lanea. Lasst mich Euch und Señor Stewart ein Angebot machen, bei dem es Euch an nichts mangeln wird. Ich wüsste einen Ort, an dem die Waidami keine Bedrohung darstellen sollten. Das Meer ist beinahe einen Tagesritt entfernt.«

Lanea blinzelte ihn an. Hatte er ihre Gedanken gelesen? Tirado lächelte verständnisvoll und wandte sich Cale zu: »Ich besitze eine Zuckerrohr-Plantage auf einer Insel, deren Verwalter gestorben ist. Ein Posten, von dem ich überzeugt bin, dass Ihr ihn zu meiner vollsten Zufriedenheit ausfüllen würdet. Dort ist genug Platz für Euch und Lanea; solange es Euch beliebt, soll es Euch ein Zuhause sein.«

»Ich weiß nicht, ob ich darüber in diesem Moment eine Entscheidung treffen kann.« Zweifelnd betrachtete Cale den Gouverneur.

»Nun, betrachtet es als eine Möglichkeit, fernab von den Ereignissen Eure Gedanken in Ruhe zu klären. Ihr könntet ungestört Eure weitere Vorgehensweise überdenken. Und wenn Ihr beschließt zu gehen, wird Euch niemand im Weg stehen.«

Cale wiegte den Kopf nachdenklich hin und her und wechselte einen langen Blick mit Lanea.  Dann stand er auf, reichte Tirado die Rechte, die dieser ergriff. »Ihr seid ein großzügiger Mann, Señor Gouverneur, und ich verstehe nun, warum Jess von Euch als einen Freund gesprochen hat. Ich werde Euer Angebot mit Dank annehmen.«

»Mein Angebot ist nicht so uneigennützig wie es scheint. Ihr tut mir einen Gefallen, wenn Ihr den freien Posten übernehmt. Ein Verwalter ist dringend notwendig. Mir mangelt es an Zeit, mich selbst darum zu kümmern.« Tirado wandte sich wieder Lanea zu: »Was ist mit Euch?«

»Es gibt nichts, was mich hier noch hält.« Lanea zögerte nicht. Sie wollte nur fort von hier; fort von den Erinnerungen und einen Ort finden, der sie auf andere Gedanken bringen würde. »Ich bin erleichtert, dass Ihr mir eine derartige Zuflucht bietet. Wie kann ich Euch jemals dafür danken?«

»Ihr schuldet mir keinen Dank. Ich gab mein Wort, Lanea. Es bindet mich, solange ich lebe und in der Lage bin, es zu erfüllen. Wenn Ihr es wünscht, wird ein Schiff bereits in den nächsten Tagen mit Euch aufbrechen.«

Lanea sah zu Cale hinüber, der ihrem Blick begegnete und dann nickte. »Gerne«, antwortete Lanea und reichte Tirado nun auch die Hand. Sanft umschloss er ihre Finger und beugte sich galant darüber, um einen Kuss anzudeuten. Sie genoss die Berührung und zog die Hand auch nicht fort, als er sie nicht aus seinem Griff entließ. Es lag so viel Trost darin, dass es ihr beinahe die Stimme raubte. »Was werdet Ihr jetzt unternehmen?«, fragte sie dennoch.

»Ich werde unverzüglich Kundschafter aussenden. – Rodriguez!« Tirado ging mit schnellen Schritten zu dem Schreibtisch, der in einer Ecke des Raumes stand. Unauffällig öffnete sich die Tür und der Diener trat ein. »Ihr wünscht, Señor Gouverneur?«

»Ruft einen Boten. Ich habe dringende Befehle für Capitan Mendez und Capitan Fernandez.«

»Jawohl.« Rodriguez verbeugte sich und zog sich zurück.

Tirado zog einen Bogen Pergament aus einer Schublade, tauchte den Federkiel in das bereitstehende Tintenfass und begann zu schreiben.

»Frederico Mendez ist der Kapitän der Neptuno. Er ist einer meiner zuverlässigsten Männer. Er wird dem spanischen Hof eine Nachricht überbringen, damit wir von dort möglichst schnell mit Verstärkung rechnen können.« Die Feder tanzte eilig über das Pergament, stoppte aber plötzlich. Nachdenklich sah Tirado auf Lanea und Cale. »Capitan Fernandez kennt Ihr bereits, Lanea. Er wird Euch und Señor Stewart sicher nach Kuba bringen.«

Ein Schiff würde sie SICHER nach Kuba bringen! Erst jetzt bemerkte Lanea, wie unbeteiligt sie die letzten Minuten hier gesessen hatte. Doch dieser Satz rüttelte sie auf. Die vertraute Monsoon Treasure gefährdete von nun an ihre Sicherheit. Die Monsoon Treasure und die Männer darauf waren jetzt der Feind. Der Gedanke war nur schwer zu ertragen. Müde erhob sie sich. Sie wollte nur noch alleine sein. Augenblicklich standen auch Cale und Tirado auf.

»Ich möchte mich zurückziehen, Señor Tirado, bitte.«

»Selbstverständlich, Lanea.« Tirado trat um den Tisch herum. »Rodriguez wird Euch begleiten. Sollte Euch der Sinn nach einem neuen Zimmer stehen, so wird er Euch ein neues richten lassen.«

»Danke. Ihr seid zu liebenswürdig, aber das wird nicht nötig sein.«

»Dann bleibt mir nicht mehr, als Euch zunächst einen ruhigen Schlaf zu wünschen.«

Lanea lächelte ihn dankbar an. Als würde Rodriguez sein ganzes Leben hinter der Tür verbringen und daran lauschen, öffnete sich diese jetzt. Mit einer kurzen Geste deutete er in den Flur und sagte: »Wenn Ihr mir bitte folgen würdet.«

Lanea drehte sich noch einmal kurz zu dem jungen Gouverneur um. Sein Blick war freundlich, aber die Sorge in seinen Augen konnte er nicht verbergen. Irgendwie hatte sie das starke Gefühl, dass die Informationen ihres Vaters nicht verhindern konnten, was vor ihnen lag. Gleichgültig was Tirado auch alles unternehmen würde, um dem zuvor zu kommen. Ein Grund mehr, Cartagena zu verlassen, auch wenn sie Tirado alles Gute wünschte.

»Viel Glück!«, sagte sie leise und folgte Rodriguez hinaus. »Ihr werdet es brauchen.«

Ausgeliefert

 

Der Anker der Monsoon Treasure fiel klatschend in das türkisblaue Wasser und zerriss für einen flüchtigen Moment die spiegelglatte Oberfläche.

Bocca del Torres!

Jess machte einen tiefen Atemzug und blickte über den Strand der kleinen Bucht, die ihnen seit vielen Jahren als Zuflucht diente. Die Hütten säumten den Übergang zum Inneren der Insel und schienen auf ihre Bewohner zu warten.

Doch die Ruhe war trügerisch. Jess waren nicht die kleinen Boote entgangen, die an dem einfachen Steg lagen. Ein dumpfes Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus. Ein weiteres Zeichen, dass Tamaka Recht behalten sollte. Die ersten Waidami waren hierher geflüchtet.

»Endlich wieder zu Hause!« Jintel trat mit einem breiten Grinsen neben seinen Captain. »Die Männer freuen sich auf ein paar Tage der Ruhe.«

»Wir haben Besuch«, entgegnete Jess knapp und verließ das Achterdeck, während Jintel ihm folgte.

»Ja, aber ist es nicht genau das, was du uns erzählt hast? Du hast doch nicht etwas anderes erwartet, oder? Captain?«

»Vielleicht hatte ich einfach gehofft, dass der Seher sich wenigstens in einer Sache irrt.«

Zwischen den Palmen und den dichten Büschen hinter den Hütten waren Bewegungen zu erkennen. Ihre Besucher verbargen sich also im Schutz des Dickichts. Jess öffnete sich für die Strömungen und traf auf die unterschiedlichsten Gefühle und Erwartungen. Zwischen Angst vor ihnen und der Hoffnung, dass sie hier ein sicheres Zuhause gefunden haben mochten, konnte er alles spüren.

Mit einem Seufzen wandte er sich an Jintel, der ebenfalls die Bewegungen entdeckt hatte.

»Nimm dir ein paar Männer und sorge für ordentliche Unterkünfte, Jintel. Aber die Leute erhalten ihren eigenen Bereich. Dieser Strand ist leider nicht sicher genug. Hast du einen Vorschlag?«

»Weiter südlich im Landesinneren befindet sich eine kleine Lichtung mit einem Frischwasservorkommen. Ich denke, das sollte für den Anfang ein guter Platz sein. Sie sind nicht sofort von See aus zu entdecken.«

Jess nickte nachdenklich. »Gut. Kümmere dich um alles Erforderliche. Und vor allem schärfe ihnen ein, dass sie an diesem Strand in nächster Zeit nichts zu suchen haben. Du bist mir für diese Menschen verantwortlich.«

»Aye, Captain.« Jintel räusperte sich und warf ihm einen langen Blick zu. Auch in ihm hatte sich die Unsicherheit vor dem Ungewissen eingenistet. Seine Strömung hatte den ruhigen und unerschütterlichen Fluss verloren. Es war bei Jintel nicht anders als bei den anderen Männern der Crew. Eine Frage lastete auf ihm, die er nicht länger zurückhalten konnte:

»Was erwartet uns, Jess? Hat Tamaka dazu etwas gesagt?«

»Die Waidami werden hierher kommen und mich holen, Jintel«, entgegnete er ruhig. »Das war alles, was in dem Schreiben stand. Aber ich fürchte, dass es nicht dabei bleiben wird. Du solltest dich mit den Männern ebenfalls ins Innere der Insel zurückziehen. Es ist besser, wenn ihr nicht mehr hier seid, wenn sie kommen.«

»Du erwartest allen Ernstes, dass wir dich hier alleine zurücklassen?«

»Ich erwarte, dass ihr meine Befehle befolgt.«

Jintel presste aufgebracht die Lippen zusammen. Sein Unterkiefer mahlte, als kaute er auf einem besonders zähen Stück Fleisch herum. Jess brauchte seine Strömungen nicht zu lesen, um zu wissen, was in ihm vorging: Es widerstrebte ihm, sich einfach zurückzuziehen.

»Die Waidami werden wissen, dass du die Treasure nicht alleine hierher gesegelt hast. Und ihnen sollte wohl kaum verborgen bleiben, dass einige aus ihrem Volk hier untergeschlüpft sind. Torek wird dies alles berücksichtigen, wenn ich diese kleine Schmeißfliege richtig einschätze.«

»Du redest beinahe wie Cale.«

»Wirfst du mich jetzt auch über Bord?«

Auch wenn Jintel ihn schwach angrinste, spürte Jess den Ernst hinter dieser Frage.

»Es würde wohl kaum etwas nützen.« Er schüttelte den Kopf und legte dem bulligen Mann kurz die Hand auf die Schulter. »Ich möchte euch aus der Sache raushalten. Torek ist ein unberechenbarer Wahnsinniger. Möglicherweise wird er euch töten lassen, nur um mich zu treffen. Dieses Risiko kann ich nicht eingehen.«

»Was stellst du dir also vor? Was sollen wir tun?«

»Am liebsten wäre mir, wenn ihr die Insel verlasst. Aber dann sind die flüchtigen Waidami hier alleine, und sie sind sicherlich nicht weniger gefährdet.« Jess warf einen langen Blick auf die Hütten. »Wenn ich Torek wäre, würde ich zuerst auf die Hütten feuern lassen. Sie sind ein hervorragendes Ziel, und das Zeichen, das er damit setzt, ist von See aus direkt für alle zu sehen, die diese Bucht ansteuern.« Tatsächlich war es wahrscheinlich gleich, wohin er seine Männer schicken würde. Torek wusste es längst. Wenn er ihnen wirklich etwas antun wollte, würde es für ihn ein Leichtes sein, sie aufzuspüren.

»Ihr zieht euch alle mit den Flüchtlingen zurück. Und kommt erst wieder herausgekrochen, wenn sie mit mir die Insel verlassen haben.«

Jintels Blick flackerte, dann senkte er die Augen. Seine Hände ballten sich langsam zu Fäusten, die schon so manchen Schlag ausgeführt hatten, doch jetzt nur hilflos an seinen Seiten herabhingen. »Ich werde mich in meine Kajüte zurückziehen. Du sorgst dafür, dass die Männer verschwinden.«

»Du willst es ihnen nicht selbst sagen?« Diesmal lag ein klarer Vorwurf in seiner Stimme, die Jess noch mehr an Cale erinnerte. Als hätten die beiden Männer eine geheime Absprache getroffen.

»Es gibt nichts mehr zu sagen.« Jess nickte ihm zu und drehte sich um. Während er auf das Schott zuging, sperrte er die Strömungen seiner Umgebung aus. Er wollte alleine sein und sich nicht von ihnen beeinträchtigen lassen. Sie auf diese Weise zu verlassen, fiel ihm schwerer, als er zugeben wollte.

Als er kurz darauf die Tür seiner Kajüte hinter sich schloss, stand er zunächst da und lauschte auf die Geräusche, die von Deck herunterdrangen. Jintel brüllte mit rauer Stimme seine Befehle, auf die seine Männer unverzüglich reagierten, als wären sie alle über eine unsichtbare Schnur miteinander verbunden. Eingespielt, wie sie waren, dauerte es nicht lange, bis sich Totenstille über die Treasure ausbreitete. Jetzt war er wirklich allein. Jess stand immer noch an der Tür und starrte in das Innere des Raums. McDermott hatte die Treasure nicht lange genug in seinem Besitz gehabt, um große Veränderungen vornehmen zu können. Die wenigen Sachen, die Jess von ihm gefunden hatte, hatte er noch am Abend der Schlacht über Bord werfen lassen. Dennoch war es seltsam zu wissen, dass McDermott hier seinen Platz eingenommen hatte. Der Raum war derselbe, doch trug er nicht mehr nur noch die Erinnerungen von ihm selbst in sich.

Ein Schmerz fraß sich durch die Tätowierung, als wollte auch diese ihn daran erinnern, dass die Verbindung zu seinem Schiff die Ursprünglichkeit verloren hatte. Jess fühlte mit der Hand über die Linien, die die Monsoon Treasure so lebendig auf seinem Körper verewigten. Die Tätowierung fühlte sich unter seiner Hand nicht anders an, als die erste. Dennoch wurde das Gefühl in ihm täglich stärker, dass trotzdem eine Veränderung geschehen war, ohne dass er zu sagen vermochte, was genau es war.

Der Pirat trat an seinen Schreibtisch und öffnete eine Schublade. Nachdenklich betrachtete er den Inhalt. Der Dolch der Thethepel lag darin, unachtsam hineingeworfen, nachdem er seinen Dienst versehen hatte. Sicher ein weiterer Grund, warum sie kamen, um ihn zu holen. Bei der Geschwindigkeit, in der sie in letzter Zeit neue Schiffe bauten, brauchten sie den Dolch, um die neuen Kapitäne mit ihnen zu verbinden. Jess nahm den Dolch und besah ihn sich genau. Die nadelfeine Spitze hatte er nun schon mehrfach zu spüren bekommen. Bei genauem Hinsehen konnte er ein feines Loch in der Spitze ausmachen, durch das die Tränen der Thethepel flossen, um die Tätowierung zu färben. Der Stein, der den Griff krönte, war immer noch tiefrot und schien mit geheimnisvollem Leben erfüllt. Für einen Augenblick überlegte er, den Dolch ebenfalls über Bord zu werfen, da die Zerstörung nur in den Höhlen der Thethepel möglich war. Doch er war sich sicher, dass er damit nichts anderes erreichen würde, als Torek und Bairani unnötig zu erzürnen. Damit riskierte er möglicherweise eine unkontrollierte Racheaktion des Sehers, die seine Männer ausbaden mussten. Also legte er den Dolch zurück in die Schublade und schloss sie wieder.

Unschlüssig sah er durch den Raum. Ein Kribbeln kroch über seinen Rücken. Es gab nicht das Geringste, das er tun konnte.

 

*

 

Am nächsten Morgen lag Jess auf der Koje in seiner Kajüte und starrte in das Zwielicht, das den Raum erfüllte wie die Zweifel seinen Verstand. Nur langsam wich die Dunkelheit, als könnte sie sich nicht entscheiden, dem Tag wirklich schon den Platz zu überlassen.

Jess lag völlig ruhig. Ein Beobachter hätte nicht erkennen können, welcher Sturm in ihm tobte.

Was tat er hier, fragte er sich. Er lag wie ein Opferlamm da und wartete auf die Ankunft des Unvermeidlichen. Er opferte sich, nein, er opferte wesentlich mehr als nur sich selbst. Zum ersten Mal waren seine Atemzüge unkontrolliert und zitterten leicht.

Auf Tamakas Vision hin, opferte er sein Leben, seine Hoffnung auf ein anderes Leben. Er opferte seine Männer, und was ihm am schwersten fiel, er opferte seine Liebe.

Wieder machte er einen tiefen Atemzug, und ein Lächeln wanderte trotzig in seine Mundwinkel, als er an Lanea dachte. Sie musste so verletzt sein, weil er sie einfach zurückgelassen hatte - wieder einmal. Aber diese Verletzung würde heilen, und Lanea würde ihn vergessen.

Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Die Ruhe war nun auch äußerlich zerstört, als er sich bei seinen finsteren Gedankengängen immer weiter verspannte und mit den Händen den hölzernen Rand seiner Koje umklammerte, als müsste er sich daran festhalten.

Er begab sich auf unbekanntes Terrain. Freiwillig lag er hier und wartete darauf, dass die Waidami kamen, um ihn zu holen. Was würde dann mit ihm geschehen? Tamaka hatte sich wie immer unklar ausgedrückt. Das Einzige, woran er in seiner Schriftrolle keinen Zweifel gelassen hatte, war, dass Jess erst wieder für Bairani segeln musste, um irgendwann jemanden zu treffen, der für den weiteren Verlauf äußerst wichtig war. Ohne diese Person würde es ihm nicht gelingen, Bairani zu töten. Sie allein würde im rechten Augenblick das Blatt zu ihrer allen Gunsten wenden.

Jess ballte die Fäuste und schnaubte wütend auf. Was immer das auch heißen mochte. Es blieb nur abzuwarten und zu hoffen, dass er tatsächlich so die Gelegenheit bekam, Bairani zu töten.

Langsam schloss er die Augen und konzentrierte sich auf seine Atemzüge. Das leichte Zittern, das dabei sein Innerstes berührte wie die schnellen Flügelschläge eines Kolibris, war die Unruhe der Monsoon Treasure, und Jess erschauerte.

Sie kommen, schrie es plötzlich in ihm, bevor die Treasure ihn einfach mit sich riss. Er war gedanklich vorbereitet, doch als er mit seinen Sinnen durch das langsam heller werdende Wasser der Bucht tauchte, um an ihrem Ende auf sechs Schiffsrümpfe zu stoßen, traf ihn der Anblick wie ein Fausthieb.

Sie waren bereits da!

Fünf der Schiffe schoben sich vor die Ausfahrt der Bucht und versperrten sie, während das größte der Schiffe in die Bucht hinein segelte.

Das Krachen von Kanonen riss ihn mit der Gewalt einer Explosion plötzlich zurück in die Wirklichkeit seiner Kajüte. Schweratmend setzte er sich, nur um sofort aufzuspringen. Es war so weit.

Von einem Moment auf den anderen überkam Jess eisige Ruhe. Das Warten, das so sehr an seinen Nerven gezerrt hatte, war vorbei. Es gab kein Zurück mehr, es war seine Entscheidung gewesen, sich den Anweisungen in der Schriftrolle zu beugen. Entschlossen rannte er aus seiner Kajüte. Als er das Deck betrat, empfing ihn bereits das erwartete Chaos.

Während ein riesiger Viermaster drohend neben der Monsoon Treasure lag und seine Breitseite auf sie gerichtet hielt, rannten zurückgebliebene Waidami schreiend zwischen den Hütten umher und verschwanden im Dschungel. Ihre panischen Strömungen überschlugen sich förmlich, verloren sich aber schnell und spurlos im Dickicht der Insel. Rauch schwelte an Land, und einige der Hütten lagen in Trümmern, wo die Kanonenkugeln ihren verheerenden Weg zwischen sie geschlagen hatten.

Überrascht fiel sein Blick auf die Beiboote, die mit seinen Männern zwischen Strand und Monsoon Treasure dümpelten. Die Männer widersetzten sich offen seinem Befehl. Jess runzelte unwillig die Stirn, doch er konnte sie verstehen. Es fiel ihnen schwer, tatenlos auf der Insel abzuwarten, was weiter geschehen würde. Doch trotzdem zögerten sie und starrten stattdessen unentschlossen zu ihm herüber.

Jess wandte sich dem Viermaster zu. An dem mächtigen Bug reckte sich eine schlanke Frauengestalt in die Höhe. Ihre Haare breiteten sich über das Holz aus und rankten sich in einer wilden roten Farbe bis hinauf an die Reling und vermittelten den Eindruck, das Schiff würde in Flammen stehen. ›Thethepel‹ stand in ebenfalls roten Buchstaben auf dem Bug geschrieben.

Es gab keinen Zweifel, sie hatten ein Schiff gebaut, das selbst die Kampfkraft der versenkten Darkness in den Schatten stellte.

Jess ließ seinen Blick weiter wandern, bis er an einer schmächtigen Gestalt in dem grauen Gewand eines Sehers hängenblieb.

Torek!

Ein selbstgefälliges Lächeln stand in dem jungen Gesicht, als er Jess‘ Blick begegnete. Leidenschaftslos betrachtete er den verhassten Seher. Er hatte gewusst, dass er dem Mörder Hongs wieder gegenüberstehen würde. Und er würde ihn dafür bezahlen lassen. Doch nicht heute und nicht hier. Jess atmete beherrscht ein und aus und verfolgte regungslos, wie Torek in ein wartendes Beiboot abenterte und sich zur Treasure rudern ließ.

Jess wartete. Er verschränkte die Arme vor der Brust, versuchte den schwelenden Hass darin zu unterdrücken und blickte zu der Fallreeppforte. Die groben Gesichtszüge eines Piraten tauchten auf, der zu oft in eine Schlägerei geraten war. Die breite Nase war ein unförmiger Klumpen, der das ganze Gesicht beherrschte und die Brutalität des Mannes offen zur Schau stellte. Geschickt enterte der Pirat auf und beobachtete ihn lauernd, während er die Muskete von seiner Schulter nahm und sie auf Jess richtete. Dieser konnte sich ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen, blieb aber ansonsten weiterhin regungslos auf seinem Platz. Ein weiterer Pirat erschien, der dem Beispiel seines Kameraden folgte und die Muskete augenblicklich auf Jess richtete. Erst danach betrat Torek das Deck der Treasure.

Sorgfältig glättete er mit beiden Händen sein Gewand und sah sich provozierend langsam auf dem Schiff um. Nach einer geraumen Weile, in der keiner ein Wort sprach, setzte er sich in Bewegung. Jeder Schritt schien sorgfältig platziert. Seine Miene zeigte deutlich, dass er sich lange auf diesen Augenblick gefreut hatte und ihn tausendmal in Gedanken durchgespielt haben musste. Die Augen Toreks waren von einer unheimlichen Freude erfüllt, die sich mit dem Hohn und der Verachtung Jess gegenüber zu einem köstlichen Mahl für sein Selbstbewusstsein vereinigten. Während weitere Piraten das Schiff enterten, kam Torek auf ihn zu und blieb unmittelbar vor ihm stehen.

»Torek«, sagte Jess knapp.

»So sehen wir uns also schon wieder, Jess Morgan! – Ist es nicht interessant, dass wir uns erneut so unvermittelt gegenüberstehen, und es lächerlich einfach war, dich gefangen zu nehmen?« Toreks Lächeln vertiefte sich und zeigte deutlich das Fest, das sich in seinem Inneren abspielen musste. Mit einer übertriebenen Geste verschränkte er die Arme vor der mageren Brust. »Ich muss gestehen, dass ich nicht verstehen kann, warum der Name Morgan in der Karibik so gefürchtet sein soll.«

»Dann ist mir die Frage gestattet, warum Ihr immer solch einen großen Aufwand betreibt, um mich gefangen zu nehmen.« Jess deutete lächelnd auf die gefechtsbereiten Schiffe vor der Bucht und auf die Thethepel.

Torek presste wütend die Lippen aufeinander. Seine Arme fielen herab, und er trat, jede Vorsicht vergessend, noch näher an Jess heran.

»Vielleicht macht es einfach Spaß zu beobachten, wie du nach deinem Schiff weinst, wie ein kleines Kind nach seiner Mutter«, zischte er und funkelte ihn herausfordernd an.

»Was wollt Ihr?«

»Befiehl deine Männer an Bord.«

Jess folgte dem Blick Toreks zu den Booten, in denen die Männer immer noch warteten, dann blickte er wieder auf den Seher.

»Was, wenn ich es nicht tue?«

»Oh, da gibt es genau eine Möglichkeit.« Torek machte eine Pause, während er an Jess vorbeitrat und zur Reling ging, um sich in einer etwas ungelenken Geste darauf abzustützen. »Wir werden die Insel vom Meer aus in Beschuss nehmen und anschließend werden wir das, was davon noch übrig ist, in Brand setzen.« Erneut machte er eine Pause, in der er sich wieder Jess zuwandte, um ihn interessiert zu mustern. »Aber im Grunde habe ich kein Interesse daran, deine Männer zu töten. Wir bauen so viele Schiffe, dass wir jeden erfahrenen Seemann brauchen, den wir bekommen können. Wenn sie also freiwillig an Bord kommen, wird ihnen nichts geschehen. Sie werden lediglich in die Bilge gesperrt, bis wir Waidami erreichen. Dort werden sie auf unsere Schiffe verteilt.« Torek räusperte sich vernehmlich und seine Stimme nahm einen beinahe sanften Ton an, als er fortfuhr. »Und wir werden mit euch einfach davonsegeln und keinen der abtrünnigen Waidami jagen, die auf diese Insel geflohen sind.«

Jess nickte langsam. Er war nicht überrascht, dass Torek darüber Bescheid wusste. Nicht umsonst war er der Vertraute Bairanis geworden. So trat er neben den Seher und winkte seinen Männern. Jintel antwortete ihm, in dem er ebenfalls eine Hand hob. Gleich darauf wurden die Riemen ins Wasser getaucht, und sie ruderten in ihre Richtung.

Der junge Seher sagte nichts, sondern lächelte ununterbrochen sein selbstsicheres Lächeln, während er die Ruderer beobachtete. Als die Boote an der Treasure längsseits gingen, warf er Jess einen langen abschätzenden Blick zu und gab seinen Begleitern einen Wink.

»Legt ihn in Ketten«, sagte er und betonte jedes Wort mit der Freude eines Kindes, das gerade eine Belohnung erhalten hatte.

Ein Mann trat zwischen den anderen Piraten hervor. In seinen Händen hielt er schwere Hand- und Fußketten. Jess ließ die Arme langsam an seinen Seiten herabsinken. Er atmete ergeben ein, als sich die eisernen Fesseln um seine Gelenke schlossen. Hatte ihn die Schriftrolle schon gedanklich in Fesseln gelegt, so erhielt er jetzt den äußeren Beweis dafür, dass er seine Freiheit bereits verloren hatte, als er sich auf Tamakas Vision eingelassen hatte. Voll Unbehagen verfolgte er, wie seine Männer das Deck betraten und ebenfalls in Ketten gelegt wurden. Ihre Augen ruhten vertrauensvoll auf ihm. Genau dieses Vertrauen belud ihn bereits jetzt mit einer Schuld, die er niemals begleichen konnte. Sie würden auseinandergerissen und auf verschiedenen Schiffen verteilt werden. Jess hatte keinerlei Zweifel daran, dass sie dort den Anfeindungen der anderen Piraten ausgesetzt sein würden. Jeder wusste, dass sie zur Crew des Verräters gehörten, und würde sie das spüren lassen. Auch seine Männer wussten das, hatten es von Anfang an gewusst. Vielleicht würden die Brüder getrennt werden, das würde Rodrigeuz das Herz brechen, wenn er nicht auf seinen kleinen Bruder aufpassen konnte und ihm in dieser Zeit vielleicht etwas geschah. N’toka war inzwischen zu Kadmis Schatten geworden und würde es ebenso hassen, von ihm getrennt zu werden. McPherson hatte sowieso schon mit dem Holzbein zu kämpfen. Jess unterdrückte ein Seufzen und hasste in diesem Augenblick dieses blinde Vertrauen. Was, wenn Tamakas Vision nicht in Erfüllung gehen würde? Schließlich hatte er selbst immer wieder betont, dass eine Vision nur Möglichkeiten enthielt.

»Und wieder einmal bist du nicht in der Lage, deine Männer wirklich zu schützen. Ist das nicht beschämend?« Toreks Stimme riss ihn aus seinen Gedanken, als hätte er sie gelesen. »Bevor deine Männer in die Bilge gesperrt werden, sollen sie noch sehen, wie ihr Captain sein Knie vor mir beugt.« Seine Augen huschten zu Jess‘ Männern und kehrten dann zu Jess zurück, um ihn hohnlächelnd von oben bis unten zu taxieren. »Knie dich vor mir nieder, Pirat«, befahl er.

Jess lachte laut auf.

»Ich werde nicht vor Euch knien!«, sagte er langsam und provokant.

Auf einen herrischen Wink Toreks hoben die beiden bewaffneten Piraten ihre Musketen und richteten die Läufe auf Jess Kopf.

»Ihr werdet mich wohl kaum erschießen, weil ich nicht vor Euch niederknie, Torek. Bairani will mich lebend, wozu wäre sonst der ganze Aufwand notwendig?« Diesmal lächelte Jess selbstgefällig und machte einen Schritt auf den Seher zu, in dessen Miene sofort Panik aufflackerte. »Ich werde mein Knie nicht freiwillig vor deinesgleichen beugen, Seher.«

Aus Toreks Gesicht wich alle Farbe. Wütend ballte er seine Fäuste, während er sich hastig umsah und sich davon überzeugte, wer Zeuge dieser Szene war. Als er sich wieder Jess zuwandte, konnte dieser darin lesen, dass er diese Demütigung so nicht hinnehmen würde. Jess erschauderte.

»Du wirst dein Knie vor mir beugen, Pirat! – Schon bald wirst du vor mir auf den Knien umherrutschen, wenn ich es will und du wirst noch ganz andere Dinge tun, einfach weil ich es will …!« Die Worte trafen Jess, als würde jedes von einem Messer geführt, das einen blutigen Schnitt hinterließ. Torek sprach genau das aus, wovor Jess sich am meisten fürchtete, und er wusste mit unheimlicher Sicherheit, dass der Seher Recht behalten würde …

 

*

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