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LESEPROBE 

Die Schiffe der Waidami

 

Prolog

 

Das kleine Fischerdorf schmiegte sich in der unheilvollen Sturmnacht schutzsuchend an die hinter ihm aufragenden Steilwände. Der Regen peitschte vom Meer aus gegen die Fenster der schlichten Hütten. Riesige Wellen griffen nach den Fischerbooten und drohten sie mit einem einzigen Bissen zu verschlingen.

Die Nacht war finster und schien nicht enden zu wollen.

Eine Frau beugte sich in der warmen Abgeschiedenheit ihrer Hütte über ihren kleinen Sohn, der auf dem Bett seiner Eltern eingeschlafen war. Sie wickelte ihn fürsorglich in ihre Decke und strich ihm über sein friedliches Gesicht. Ihre Blicke durchsuchten die Dunkelheit hinter dem Fenster, und sie atmete erleichtert auf, als sie ab und zu das Aufleuchten des kleinen Leuchtfeuers an der Küste sah. Zärtlich flüsterte sie dem Jungen die Worte ins Ohr, die schon ihre Mutter ihr in solchen Nächten zugeraunt hatte: „Dieses Licht ist Geborgenheit in einer dunklen Nacht. Solange es dieses Licht gibt, weißt du, dass die Welt noch existiert.“ Sie gab ihm einen Kuss und legte sich dann zu ihm, um kurz darauf ebenfalls in einen tiefen Schlaf zu fallen.

 

Niemand in diesem Dorf merkte, wie sich später in der Nacht dunkle Schatten der Fischerhütte näherten. Unbemerkt betraten sie die Fischerhütte, unbemerkt hoben sie das Kind aus seinem Bett und unbemerkt verließen sie für immer diese Gegend.

 

​

Geheimnisse

 

- Sieben Jahre später –

 

Das zehnjährige Mädchen saß vor der kleinen Hütte und malte gelangweilt mit der Spitze eines brüchigen Zweiges Bilder in den Sand. Nachdenklich blickte sie ihrem Vater hinterher, der ihr mit einem leisen Abschiedswort über den Kopf streichelte, um dann einen Weg in den Dschungel einzuschlagen. Einer plötzlichen Eingebung folgend sprang sie auf.

Wohin ging er bloß jeden Tag, seitdem sie auf diese Insel gekommen waren? Jeden Tag schlug er die gleiche Richtung ein und kehrte erst Stunden später wieder zu ihr und ihrer Mutter zurück.

Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter.

„Ich geh an den Strand, Mutter“, rief sie.

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie ihrem Vater hinterher. Auf leisen Sohlen schlängelte sie sich durch die Pflanzen und orientierte sich nur an dem Rascheln, das sie vor sich im Dschungel hörte.  Ihr Vater gab sich keinerlei Mühe, lautlos den Dschungel zu durchqueren, also konnte es sich hierbei auch kaum um ein großes Geheimnis handeln. Mit diesem Gedanken verscheuchte sie schnell das aufkeimende schlechte Gewissen wie eine lästige Fliege.

Die eingeschlagene Richtung führte sie zweifellos an den Strand. Während sie vorsichtig über hochstehende Wurzeln kletterte und Blätter beiseiteschob, stellte sie die wildesten Vermutungen über das geheimnisvolle Tun ihres Vaters an.

Vielleicht traf er sich mit anderen Waidami, um endlich etwas gegen den Obersten Seher und seine Piraten zu unternehmen. Möglicherweise hatte er aber auch einen Piratenschatz gefunden, der so groß war, dass er immer nur kleine Teile davon unauffällig zu ihrer Hütte schaffen konnte.

Als sie noch über diese Ideen nachgrübelte, hörte sie plötzlich die Stimme ihres Vaters. Unwillig verzog sie das Gesicht. Hatte er sich bisher auch keine Mühe gegeben, sich leise fortzubewegen, sprach er nun leider in einem gedämpften Tonfall. Sie hatte also Recht, und er traf sich heimlich mit jemandem. Doch mit wem?

Die Augen des Mädchens verengten sich in dem vergeblichen Bemühen, das dichte Grün zu durchdringen, um endlich einen Blick auf den geheimnisvollen Unbekannten werfen zu können. Entschlossen schob sie sich durch die letzten Pflanzen. Ihr Atem beschleunigte sich vor Aufregung, und ihr Herz klopfte bis zu ihrem Hals. Vor ihr öffnete sich ein feinkörniger Sandstrand, gegen den das Meer in sanften Wellen auflief. Vereinzelte Palmen bogen sich dem klaren Wasser entgegen, dazwischen Felsbrocken wie hingeworfen. Ihr Vater stand vor einem dieser Felsen und redete mit jemandem, den sie nicht sehen konnte. Wenige Augenblicke später holte sie überrascht Luft, als ein Junge von dem Felsbrocken sprang und leichtfüßig vor ihrem Vater im aufwirbelnden Sand landete.

Ihr Vater unterhielt sich mit einem Kind? Das war also der geheimnisvolle Unbekannte?

Ihr Vater lachte, legte dann dem Jungen einen Arm um die schmalen Schultern und führte ihn zu einem Schattenplatz unter den Palmen.

Erstaunt fuhr sie sich über die Augen. Der Junge war ungefähr in ihrem Alter und offensichtlich kein Angehöriger ihres Volkes. Seine Haut war zwar gebräunt, doch viel heller, als sie es jemals zuvor gesehen hatte. Geschmeidig ließ er sich mit überkreuzten Beinen neben ihren Vater sinken, ohne seine großen Augen von ihm zu nehmen, die voller Interesse waren. Beide vertieften sich in ein intensives Gespräch, das sie zu ihrem Leidwesen nicht verstand. Angestrengt überlegte sie, wie sie sich unbemerkt dem Sitzplatz der beiden nähern konnte. Eine stetige Brise strich über den vor Hitze schwirrenden Sand, verfing sich in den Palmwedeln und Blättern der anderen Gewächse, sodass  ein fortlaufendes Rascheln herrschte. Das Mädchen grinste breit. Diesen Umstand würde sie für sich nutzen. Sie konzentrierte sich auf das Rascheln der Blätter in ihrer unmittelbaren Umgebung und folgte dessen natürlichem Rhythmus, um sich so unauffällig wie möglich darin fortzubewegen. Es dauerte Ewigkeiten, aber sie arbeitete sich geduldig weiter. Als sie endlich auf gleicher Höhe angelangt war, ließ sie sich vorsichtig auf den Boden nieder und schob einen dornenbesetzten Zweig beiseite. Zufrieden sah sie sich in ihrem kleinen Beobachtungsposten um und richtete dann ihren Blick durch ein kleines Loch im Blattwerk vor sich. Die Stimme ihres Vaters erklang nun laut und deutlich.

„… werde ich dir erzählen, warum sie uns die Fähigkeit schenkte, aus den Schiffwracks einzigartige, neue Schiffe zu bauen, die mit ihren Kapitänen eine unvergleichliche Bindung eingehen.“

Er erzählte diesem Jungen also gerade eine der alten Geschichten ihres Volkes. Früher hatte er ihr diese Geschichten immer erzählt, und sie hatte sie geliebt. Mit seiner wohlklingenden Stimme hatte er sie immer wieder in seinen Bann geschlagen und die Bilder der Sagenwelt der Waidami vor ihrem inneren Auge lebendig werden lassen.

Das Mädchen richtete nur kurz ihr Augenmerk auf ihren Vater, dann wurde sie von dem Jungen angezogen, wie ein Moskito von der blutgefüllten Wärme  eines Körpers. Seine eisblauen Augen waren gebannt auf sein Gegenüber gerichtet. Jedes Wort schien er in sich aufzusaugen, als wollte er nicht zulassen, dass er sie jemals vergessen könnte.

Die Zeit stand still, während  sie ihn betrachtete. Während sie den Wind verfolgte, der auf seinem Weg über den Strand in den weizenblonden  Haaren hängenblieb, als könnte er sich von der schulterlangen Pracht nicht trennen. Wie die Sonne den gebräunten Körper liebkoste und sich die fein geschwungenen Lippen bewegten, als er ihrem Vater eine Frage stellte.

Das Mädchen rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf, um sich besser auf das Gespräch konzentrieren zu können. Bereits nach wenigen Worten hatte sie die Geschichte der Göttin Thethepel erkannt. Es war die Geschichte der Göttin des Meeres und des Feuers, die der Sage nach die Insel ihres Volkes erschaffen hatte, indem sie diese mit der Hilfe eines Vulkans aus dem Meer erhob. Mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht versank sie in dem Anblick des Jungen und lauschte, ebenso wie dieser, fasziniert den Worten ihres Vaters.

 

*

 

Die Wochen zogen  dahin, in denen das Mädchen tagtäglich ihrem Vater in den Dschungel folgte, um den geheimnisvollen Jungen zu beobachten. In ihrem Versteck lauschte sie den Erzählungen ihres Vaters und wie er dem Jungen die alte Sprache ihres Volkes lehrte. Zu ihrem Erstaunen berichtete er auch offen über die derzeitige Lebensweise der Waidami und wie sehr er den Missbrauch ihrer Fähigkeiten missbilligte. Ihr Vater zeichnete ein schonungsloses Bild von dem rücksichtslosen Einsatz der Piraten durch die Waidami, als wollte er den Jungen auf einen bestimmten Weg lenken unmerklich

Das Mädchen ließ den Jungen dabei so gut wie nie aus den Augen. Sie war inzwischen so mit seinen Bewegungen vertraut, dass sie an diesem Morgen bis ins Innerste erschrak, als sie ihn sah.

Sie hatte sich diesmal noch vor ihrem Vater davongestohlen, da sie nicht länger abwarten konnte,  den Jungen wiederzusehen. Endlich würde sie ihn einmal ganz alleine betrachten können, ohne dass die Worte ihres Vaters sie ablenken konnten. Ein Hochgefühl trieb sie durch den Dschungel. Diesmal legte sie den Weg wesentlich schneller zurück, da sie erst kurz vor dem Strand vorsichtig sein musste. Ungeduldig suchte sie sich einen günstigen Platz, von dem sie eine gute Sicht haben würde. Doch der Anblick, der sich ihr auf dem friedvollen Strand bot, erschütterte sie zutiefst.

Er war bereits am Strand und trat gerade mit steifen und ungelenken Schritten aus dem Wasser. Die Augen des Mädchens weiteten sich, als sie die vielen kleinen und großen Wunden auf seinem Oberkörper entdeckte. Seine sonst so anmutigen Bewegungen wirkten mühsam, und er blutete stark aus einer tiefen Wunde auf der rechten Schulter. Sein Gesicht war bleich und tiefe Schatten lagen um seine Augen. Mit schweren Schritten ging er auf den üblichen Schattenplatz zu, wo er sich unter qualvollem Stöhnen in den Sand fallen ließ.

Als er ihr im Sitzen leicht die Rückseite zudrehte, unterdrückte sie gerade noch den erschrockenen Laut, der sich über ihre Lippen stehlen wollte. Blutige Striemen zogen sich über seinen Rücken. Ein unverkennbares Zeichen, dass er ausgepeitscht worden war. Zeugen grausamer Gewalt, die sich in das junge Leben einbrannten, seine Seele prägten und nie mehr auszulöschen waren.

Ihr eigener Herzschlag pochte schmerzhaft gegen ihre Schläfen. Schrecken und Mitleid schnürten ihre Kehle zu und hinderten sie daran zu atmen. Verzweifelt presste sie eine Faust gegen ihren Mund. Tränen des Zorns quollen aus ihren Augen. Ihre Schultern zuckten in einem krampfartigen Takt, während sie darum kämpfte, das hysterische Schluchzen, das sich ihren Hals hochquälte, zu unterdrücken. Ein nach Luft schnappendes Aufheulen entwich ihren zusammengepressten Lippen. Der Junge richtete sich auf und starrte sekundenlang auf die Blätter. Eine Welle der Panik brach über sie herein. Sie wollte aufspringen und kopflos in den Dschungel flüchten, als ein lautes Knacken, nicht weit von ihrer Position entfernt, die Ankunft ihres Vaters ankündigte.

Verstört kauerte sie sich auf den Boden und ließ ihren Tränen freien Lauf. Wer mochte  dem Jungen das nur angetan haben und warum? Hatte man ihn schon öfters derart misshandelt? Saß deswegen immer der bittere Zug in seinen Mundwinkeln, als hätte er bereits zu viel Schmerz erlitten?

Sie weinte bitterlich und barg den Kopf auf ihren Knien, ihre Arme wie zum Schutz darübergelegt. Sie weinte, bis sie sich vollkommen leer fühlte. Nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte, gewann, trotz aller Erschöpfung, die Neugier wieder die Oberhand. Zu ihrer großen Erleichterung war ihr Vater bereits dabei, die Verletzungen des Jungen sanft, aber mit viel Geschick zu versorgen. Dieser ließ sich dankbar in die Fürsorge ihres Vaters fallen, und sie fragte sich einmal mehr, warum er das alles tat? Das Verhalten ihres Vaters war ihr ein Rätsel, aber vermutlich würde sie auf ihre Fragen keine Antwort erhalten.

Das Mädchen seufzte und holte tief Luft. Gerade gab ihr Vater dem Jungen etwas zu trinken. Als sie sich fragte, was er ihm wohl dort angeboten hatte, fiel sein Körper plötzlich auf die Seite und blieb reglos im Sand liegen.

„Nein!“

Mit einem Satz sprang sie auf, als sie sich auch schon ungläubig dem beruhigenden Gesicht ihres Vaters gegenübersah. Liebevoll nahm er sie an der Hand und zog sie hinter sich her. Er wirkte nicht im Mindesten überrascht, und ein wissendes Lächeln saß in seinen Augenwinkeln. Wahrscheinlich hatte er bereits gewusst, dass sie die beiden beobachtet hatte. Auf einmal kam sie sich unendlich dumm vor. Als sie an der Hand ihres Vaters durch das Blattwerk trat und auf den Jungen zuging, traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag.

„Er wird ein Pirat, nicht wahr?“, keuchte sie auf.

„Ja, in ein paar Tagen ist es so weit. Er ist nun alt genug, sein Schiff ist bereits gebaut, und das Bündnis kann vollzogen werden.“ Die grünen Augen ihres Vaters fixierten sie ernst.

„Warum …“ Ihre Stimme brach. Ihr Vater war niemals damit einverstanden gewesen, dass die Waidami Piraten heranzogen und sie dann auf Kaperfahrt schickten. Und jetzt lernte er selbst einen von ihnen an?

„Warum? Warum hast du all die Zeit mit ihm verbracht?“ Zorn brach in ihr aus und forderte eine Erklärung.

„Ich weiß, dass dieser Junge hier die Geschichte unseres Volkes verändern wird. Auch wenn es dir im Augenblick unverständlich sein mag, ist er die einzige Hoffnung, die wir haben, um Bairani einst vernichten zu können. Erst dann werden wir unsere alte, friedliche Lebensweise zurückgewinnen und nicht mehr mit unseren Piraten über andere Schiffe herfallen. Das ist alles, was die meisten in unserem Volk sich wünschen. Alles, was ich dazu beitragen kann, habe ich dem Jungen beigebracht.“

Ihr Vater wartete auf ein Zeichen des Verständnisses seiner Tochter. Doch das Mädchen war zu verwirrt. Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf, und sie sah ihn verständnislos an, als er sie anlächelte und auf den Jungen deutete, der immer noch leblos ausgestreckt im Sand lag.

„Komm, schau ihn dir genauer an. – Deswegen hast du schließlich die letzten Wochen im Gebüsch zugebracht, nicht wahr?“

Vorsichtig, fast als könnte sie ihn aufwecken, trat sie bedächtig an den schlafenden Jungen heran.

„Wird er auch …“ Sie wagte nicht, den Satz zu beenden und sah ihren Vater fragend an.

„Schiffe überfallen und versenken?“ Ihr Vater nickte ernst, und ihr Herz verkrampfte sich bei dem Gedanken daran.

„Aber er wird es besser machen.“

„Wann?“

„Wenn ihr euch wiedersehen werdet.“

Langsam beugte sie sich über den Jungen und studierte das friedliche Gesicht. Immer wenn sie ihn sonst beobachtet hatte, war sein Gesicht voller Anspannung gewesen. Jetzt lag er völlig entspannt vor ihr, und seine gleichmäßigen Züge brannten sich fest in ihr Gedächtnis. Dann fiel ihr Blick auf seinen Oberkörper, und sie deutete auf die linke Brustseite.

„Wird er dort tätowiert werden?“

Ihr Vater nickte erneut und legte seine große Hand auf den Punkt über dem Herzen.

„Die Tätowierung kommt hierhin, damit eine Verbindung zum Herzen entstehen kann. Sie ist so tief, dass sie direkt von dort durchblutet wird und eins mit dem Körper wird. Deswegen wirken die Tätowierungen auch so lebendig.“

„Wird es ihm wehtun?“ Ihre Augen verfolgten voller Bangen das erneute Nicken ihres Vaters, der sie aufmunternd anlächelte.

„Er wird sich später nicht mehr daran erinnern können; so wie er alles vergessen wird, was vor der Tätowierung jemals geschehen ist.“

Ihr Vater hielt seine Hand weiterhin auf der linken Brusthälfte und murmelte kaum verständliche Worte einer ihr unbekannten Sprache. Er begann, die Worte zu einem Gesang zu verweben. Der Gesang klang eindringlich und schwebte förmlich über dem Jungen. Beinahe konnte sie die Klänge sehen, die sich einem Netz gleich über den Kopf des Jungen legten und in sein Ohr drangen. Mit einer plötzlichen Bewegung öffnete er seine Augen und starrte in den Himmel. Eine leichte Berührung an der Schulter ließ sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Vater richten, der ihr unmissverständlich klarmachte, dass sie sich über den Jungen beugen sollte.

Gehorsam kniete sie sich neben den Jungen, stützte ihre Hände auf beiden Seiten seines Kopfes in den Sand und schaute ihm erneut forschend ins Gesicht. Seine eisblauen Augen, die von langen dichten Wimpern umrahmt waren, waren weit aufgerissen, doch der Blick richtete sich ins Leere. Hätte sich die Brust nicht weiter in einem leichten Takt des Lebens gehoben und gesenkt, wäre sie überzeugt gewesen, dass er tot sein musste.

Sie zitterte und konnte ihren Blick nicht mehr von dem hübschen Gesicht abwenden. Das Murmeln ihres Vaters hatte sie inzwischen ebenfalls vollständig eingehüllt. Die Klänge schwirrten in einem intensiven Netz um ihren Kopf und drangen ungehindert an Stellen in ihrem Bewusstsein, von deren Existenz sie selbst nichts ahnte. Sie drangen dorthin, wo der Verstand keinen Zutritt erhielt und nur Gefühl und Instinkt die Handlungen lenkten.

Ihr Kopf wurde immer schwerer, und sie hatte Mühe, sich nicht einfach auf den Körper unter sich fallen zu lassen. Das Gesicht des Jungen verschwamm vor ihren Augen, doch sie wollte es nicht verlieren. Sie wollte ihn für alle Ewigkeiten ansehen.

Der Klang des Gesanges wurde noch eindringlicher, und sie gab den winzigen Widerstand auf, der sie zwang, die Augen weiterhin offenzuhalten. Ihre Lider senkten sich schwer über die Augen, und ihre Arme gaben unter ihr nach. Wie ein Stein sackte sie auf dem Körper des Jungen zusammen, der im gleichen Moment seine Augen schloss, als wäre eine Tür zugeschlagen worden.

Das Mädchen hörte nicht mehr, wie der Gesang gleichfalls endete, ihr Vater sie zärtlich in seine Arme nahm und sie zurück zu ihrer Mutter trug, die schon ungeduldig wartend in der Tür stand.

Sie bemerkte auch nicht, dass ihr Vater zu dem Strand zurückkehrte, um über den Schlaf des Jungen zu wachen und um sich anschließend, von ihm für immer zu verabschieden.

Skrupellos

 

 - Fünfzehn Jahre später -

 

Die Nebelbank war dicht und undurchdringlich. Jess lachte vergnügt auf, als der Spanier unter voller Fahrt vor ihnen hinein segelte. Offensichtlich hoffte er, dort seinen Verfolger abschütteln zu können. Ihm schien nicht klar zu sein, wer ihn verfolgte. Vor der Monsoon Treasure gab es kein Entkommen, für niemanden.

Gerade verschluckte der Nebel die dickbauchige Galeone, als hätte es sie nie gegeben.

Cale, sein Erster Maat, hielt direkten Kurs auf den Nebel. Seine braunen Augen funkelten Jess ungeduldig an, während er einen Schritt zur Seite machte, um das Steuer frei zu geben.

„Ich denke, du willst übernehmen?“, fragte er mit einer spielerisch angedeuteten Verbeugung.

Jess grinste und nahm seinen Platz am Steuerrad ein.

„Möge die Jagd beginnen.“

„Aye, aye, Captain.“ Cale grinste zurück und ging gelassen zum Hauptdeck.

Jess Morgans Hände umschlossen in einer fast liebevollen Geste das Steuerrad, dann gab er dreien seiner Männer einen Wink, die daraufhin Trommeln von ungewöhnlich großen Ausmaßen an Deck brachten. In geübten Bewegungen stellten sie die Trommeln dicht nebeneinander auf und begannen in wirbelnden Schlägen stakkatoartig einen Rhythmus zu schlagen, der den Männern der Monsoon Treasure in die Glieder fuhr und sie den Kampf herbeisehnen ließ.

 

*

 

An Deck der spanischen Galeone verfielen die Menschen in eine furchtsame Starre. Die dumpfen, aber kraftvollen Töne der Trommeln drangen wie Klänge aus einer anderen Welt herüber. Unheil schwang auf ihnen mit und brachte es mit jedem Wimpernschlag näher an sie heran. Panik breitete sich unter der Besatzung und den Passagieren aus, die an die Reling traten und verzweifelt versuchten, den dichten Nebel mit ihren Augen zu durchdringen. Doch die Quelle der unseligen Klänge blieb vor ihren Blicken verborgen. Sie selbst hatten mit ihrer Flucht in den Nebel dafür gesorgt, dass sie nun blind und hilflos den dröhnenden Schlägen der Furcht ausgeliefert waren.

Der Kapitän der Nuestra Senora di Hispaniola wich langsam von der Reling zurück und bekreuzigte sich.

„Oh, madre de dios, das muss der Herzschlag des Teufels sein.“

 

*

 

Jess beobachtete die Trommler, deren nackte Oberkörper vor Schweiß glänzten. Ihre Muskeln traten im Takt ihrer Schläge hervor, als würden sie zu dem ekstatischen Rhythmus tanzen. Die Köpfe der Trommelstöcke waren in der Bewegung kaum mehr sichtbar, wenn sie mit absoluter Präzision auf die Trommeln trafen.

Langsam schloss er die Augen. Die Ausstrahlung der Crew drängte sich in sein Bewusstsein und hielt ihn einen flüchtigen Moment davon ab, mit seinen Sinnen nach der Treasure zu tasten. Seine Männer wurden von den Trommeln so aufgestachelt, dass sie kaum noch zurückzuhalten waren. Wie ein Rudel blutgieriger Wölfe lauerten sie darauf, endlich auf den Gegner zu treffen. Doch Jess interessierte sich jetzt nicht weiter für sie und konzentrierte sich auf die Monsoon Treasure. Er verstärkte den Griff seiner Hände um das Steuerrad, ließ sein Bewusstsein in das Schiff sickern und stellte so die Verbindung mit ihr her. Die Ruhe des Schiffes legte sich wie ein Tuch über ihn, und er spürte, wie sie voller Zufriedenheit mit ihrem Bug den Dunst zerschnitt. Jess war jetzt vollkommen alleine. Alles andere verblasste um ihn herum, und er sah und hörte nichts mehr von dem, was auf Deck vorging. Er war alleine mit der Treasure und versank in das Meer unter ihrem Kiel. Seine Sinne tauchten unter ihr hindurch, entfalteten sich in Richtung Bug und suchten systematisch die See ab. Es dauerte nur wenige Augenblicke, da hatte er bereits den Schiffsrumpf der spanischen Galeone vor ihnen ausgemacht. Eine leichte Drift hatte das Schiff etwas nordwärts getrieben. Instinktiv steuerte Jess die Monsoon Treasure in die gleiche Richtung.

Der Spanier war nicht weit vor ihnen. Die Galeone arbeitete sich schwerfällig durch den Nebel. Es würde einem Kinderspiel gleichen, sie aufzubringen.

Für einen kurzen Moment drängte sich die Angst der Passagiere an Bord des fremden Schiffes in seinen Kopf, doch Jess schob diese Empfindungen sofort beiseite. Sie hatten keinen Nutzen für ihn. Er kannte kein Mitleid für diese Menschen. Sie kamen in die neue Welt, um Reichtümer anzuhäufen und vertrieben dabei rücksichtslos die einheimische Bevölkerung von ihrem Land. Abneigung erfüllte ihn. Erneut tauchte er mit seinem Bewusstsein bis zum muschelbewachsenen Kiel der spanischen Galeone. In wenigen Augenblicken würde das Schiff vor ihnen im Nebel auftauchen.

Jess öffnete die Augen und seine Gedanken klarten sich auf. Cale Stewart stand mit verschränkten Armen neben ihm und sah ihn erwartungsvoll an.

„Wir gehen gleich längsseits. Klar machen zum Entern.“

Cale hatte bereits ein Entermesser in der Hand und seine dunklen Haare zu einem Zopf zusammengebunden, damit sie im Kampf nicht störten. Die Crew stand an der Reling. Pistolen steckten in ihren Gürteln, Enterhaken ruhten wurfbereit in ihren Händen, während ihre Augen auf die Nebelwand gerichtet waren. Als sich endlich die Umrisse des Spaniers aus den wabernden Schwaden schälten, klang ein Schrei dumpf zu ihnen herüber. Die Spanier hatten ohne Zweifel bemerkt, dass die Monsoon Treasure sie fast völlig lautlos eingeholt hatte und bereits an ihrer Backbordseite längsseits ging. Jess lächelte und gab Cale einen Wink.

Enterhaken flogen daraufhin durch die Luft und verkeilten sich tief im Schanzkleid. Die spanische Galeone wurde wie ein störrisches Tier mit kräftigen Zügen an die Treasure herangezogen. Jintel drängte mit seiner massigen Gestalt vorwärts und enterte als Erster über; dicht gefolgt von Sam, Kadmi und dem ungeduldigen Rest der Crew, deren Entermesser im milchigen Licht des Nebels matt aufblitzten.

Als sie sich den Piraten so unvermittelt gegenübersahen, wichen die Spanier erschrocken zurück, doch der wütende Befehl eines älteren Mannes ließ sie innehalten.

„Wehrt euch, ihr verlausten Affen, oder wir werden alle nicht den nächsten Tag erleben!“ Die heisere Stimme bellte die einzelnen Worte heraus und rüttelte die Männer auf. Ihre Hände schlossen sich fester um die Griffe ihrer Messer, und sie stellten sich Jintel und den anderen verzweifelt entgegen.

Jess betrachtete ungerührt die Szene. Es war nicht nötig, in den Kampf einzugreifen. Ein einziger Blick reichte aus, um zu erkennen, dass die Seeleute völlig unbedarft im Umgang mit ihren Waffen waren. Sie waren keine ernst zu nehmenden Gegner und würden sich bald schon ergeben. Trotzdem entbrannte ein kurzer Kampf. Einer der Passagiere stürmte mutig auf Cale zu und ließ dabei sein Schwert drohend durch die Luft zischen. Die schlanke Gestalt seines Freundes wich leichtfüßig den Schlägen aus und begann, den Mann zu attackieren. Unter der schnellen Abfolge von Cales Hieben brach die Gegenwehr des Mannes zusammen. Schweratmend stand er ihm gegenüber, während seine Paraden immer langsamer erfolgten. Cale wartete und ließ seinen Gegner zu Atem kommen, bevor er erneut zum Angriff überging. Jess runzelte unwillig die Stirn und wandte sich ab. Diese ehrenwerte Eigenart Cales würde ihn irgendwann in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Nicht weit von ihm sanken die ersten Seeleute auf die Planken, und Cales Gegner brach mit einem erstickten Röcheln leblos zusammen. Von einem Augenblick auf den anderen erstarb das Geräusch von aufeinanderprallenden Klingen. Der Seemann, der gerade noch zur Gegenwehr aufgerufen hatte, ließ sein Schwert sinken. Die blassen Augen in seinem von Jahren auf See gezeichneten Gesicht wirkten mutlos und trübe.

„Wir ergeben uns“, sagte er mit tonloser Stimme.

Cale, der nicht weit von dem Mann stand, nickte kurz.

„Jintel, nimm dir ein paar Leute und durchsucht das Schiff. Der Rest treibt die Gefangenen zusammen!“ Cales Ruf gellte laut und vernehmlich über das Schiff.

Jintel gab augenblicklich Dan, Bill und Rachid einen Wink, die daraufhin mit ihm unter Deck verschwanden. Der Rest der Männer trieb die Spanier auf dem Hauptdeck zusammen, die sich wie ein Haufen verängstigter Schafe aneinanderdrängten. Einige der Männer bekreuzigten sich und verfielen in wimmernde Gebete, während andere voller Furcht auf die Piraten starrten und bereits im Geiste mit ihrem Leben abgeschlossen hatten.

Als Jess über die Laufplanke auf das Schiff schlenderte, richteten sich ihre Gesichter flehend auf ihn. Beiläufig ließ er seinen Blick über die Leute wandern. Dann blieb er stehen und sah sich suchend um. Von dem Kapitän war weit und breit nichts zu entdecken, aber aus dem Heckkastell strömte mühsam unterdrückte Panik auf ihn ein. Jess schnaubte ungehalten und wandte sich an Cale, der unmittelbar neben ihm stand.

„Cale, ich denke, unser spanischer Kapitän scheint noch etwas Wichtiges erledigen zu müssen. Ich werde mal nachsehen, ob ich ihm in seiner Kajüte meine Aufwartung machen kann.“

„Aye, Captain.“ Cale nickte zustimmend und gab Finnegan einen Wink, der sofort zu Jess aufschloss.

 

*

 

Capitan Juan Ramirez y Conzellon war in seine Kajüte geflüchtet, als die ersten Piraten das Schiff enterten. Er musste die Derroterro, die Sammlung der spanischen Seekarten, über Bord werfen. Die Seekarten enthielten detaillierte Angaben über die spanische Silberflotte und wann diese aus den Kolonien nach Spanien zurückkehren würden. Die Derroterro war für alle Piraten eine heiß begehrte Beute und durfte diesem elenden Pack nicht in die Hände fallen.

Der Capitan schlug gehetzt die Tür hinter sich zu und schloss sie ab. Dann flog sein Blick zu seinem Schreibtisch. Gedämpfte Kampfgeräusche drangen an sein Ohr, und zu seiner eigenen Schande musste er sich eingestehen, dass er vor Angst zitterte. Er hatte das Schiff in dem Augenblick erkannt, als es wie ein Geisterschiff aus dem Nebel aufgetaucht war und an der Backbordseite der Nuestra Senora di Hispaniola aufschloss. Es war die gefürchtete Monsoon Treasure mit Captain Jess Morgan, der im Ruf stand, mit dem Teufel im Bund zu stehen. Er versenkte die überfallenen Schiffe stets gnadenlos mit der gesamten Besatzung, niemand überlebte ein Zusammentreffen mit ihm.

Conzellon hörte die Schreie seiner Männer und der wenigen Passagiere, die sich an Bord befanden. Die plötzliche Stille, die darauf folgte, jagte ihm einen Schauer über den Körper. Fieberhaft kramte er in einer Schublade seines Kartentisches auf der Suche nach dem Schlüssel für den Schrank, in dem er die kostbare Derroterro verwahrte. Er musste sich beeilen. Jeden Moment konnten sie vor seiner Tür erscheinen. Mit Bedauern dachte er an seine Frau und seine Kinder in Spanien, während er den Schrank aufschloss und die lederne Mappe mit zitternden Fingern an sich nahm. Er wollte auf das Fenster zueilen, als er in seiner Bewegung erstarrte. Jemand hatte gerade versucht, die Tür zu öffnen. Unendlich langsam verfolgte der Spanier mit seinen Augen die Entfernung von der Tür bis zu seiner Position und weiter zu den Fenstern, durch die fahles Licht in die Kajüte fiel. Die Luft war plötzlich unerträglich stickig. Conzellon rang schwer nach Atem und öffnete mit einer hektischen Bewegung seinen Hemdkragen. Er brauchte dringend frische Luft. Entschlossen brachte er sich mit zwei Sätzen an das Fenster, als die Tür krachend aus ihrer Verankerung gerissen wurde. Seine Hand, die gerade das Fenster hatte öffnen wollen, sackte kraftlos herab. Ein eisiges Prickeln lief über seine Kopfhaut und wanderte den Rücken hinunter. Steif drehte er sich um, als würde er von unsichtbaren Fäden gezogen. Sein Blick fiel zuerst auf eine große kantige Gestalt, die ihn finster anstarrte. Der Pirat hielt sein Schwert kampfbereit in den Händen und trat nun, ihn nicht aus den Augen lassend, zur Seite und gab den Blick auf den Eingang frei.

Hinter ihm löste sich aus dem Schatten eine schlanke Gestalt, die mit der Geschmeidigkeit eines Raubtieres in die Kajüte glitt. Conzellon schluckte schwer und presste die Lippen aufeinander. Sein verräterisches Herz raste, als könnte es so aus der Gefangenschaft seines Körpers flüchten und dadurch dem unausweichlichen Tod entkommen. Der Mann war groß und vollständig in Schwarz gekleidet. Er hatte lediglich ein blutrotes Tuch um seine Hüften geschlungen, in denen zwei edle Steinschlosspistolen und ein Entermesser steckten. Sein Hemd war bis zur Mitte lässig geöffnet und offenbarte auf seiner linken Brust eine große und detailgetreue Tätowierung eines schmal gebauten Segelschiffes. Seine weizenblonden Haare hatte der Pirat zu einem Zopf zusammengebunden. Zu des Spaniers Erstaunen hielt der Pirat keine Waffe in den Händen. Entweder erwartete er keine Gegenwehr oder wusste, dass diese angesichts der brutalen Gestalt in seiner unmittelbaren Nähe vollkommen aussichtslos war.

Conzellon prägte sich jede Einzelheit ein, während der Pirat langsam und provokant durch die Kajüte auf ihn zuschritt und dabei beiläufig den Raum betrachtete. Das feingeschnittene Gesicht wirkte nicht unfreundlich, als er vor ihm stehenblieb und sich ironisch lächelnd vor ihm verbeugte.

„Darf ich mich vorstellen, Capitan? Mein Name ist Jess Morgan, Captain der Monsoon Treasure.”

Conzellon traf jedes Wort wie ein Schlag in die Magengrube, und obwohl er bereits wusste, wer sein Schiff geentert hatte, war dies nun die ausgesprochene Bestätigung für das sichere Ende. Ihre Blicke trafen sich, und dem Spanier fröstelte es. Eisblaue Augen trafen auf die seinen und musterten ihn interessiert, während der Pirat vergeblich auf eine Antwort wartete. Als ihm klar wurde, dass er keine erhalten würde, verzog sich das ansprechende Gesicht zu einem höhnischen Lächeln.

„Die Derroterro habt Ihr bereits herausgesucht, wie ich sehe. Das ist sehr zuvorkommend von Euch – Capitan Namenlos.“

Besitzergreifend streckte der Pirat seine Hand nach der Ledermappe aus. Conzellon wich einen Schritt zurück, während er verzweifelt seine Möglichkeiten in der engen Kajüte abzuwägen versuchte. Sein Herz und sein Magen verklebten zu einem dicken Klumpen aus Angst. Trotzdem regte sich Widerstand in ihm. Er war nicht bereit, diesem Piratengesindel die kostbare Mappe einfach wie einen Willkommensgruß in die Hand zu drücken. Er presste die Mappe fest gegen seine Brust und tastete mit der freien Hand vorsichtig nach dem Stuhl, der neben ihm stand. Vielleicht, wenn er schnell genug war und mit dem Stuhl das Fenster einschlagen konnte und die Mappe hinterher warf …! Capitan Juan Ramirez y Conzellon versuchte krampfhaft an diesem Gedanken festzuhalten, während er sein Gegenüber wie ein hypnotisiertes Kaninchen anstarrte.

Der Pirat lächelte ihn unverändert an, zog jedoch belustigt eine Augenbraue hoch, als sein Blick zu dem Stuhl wanderte. Er schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.

„Ihr könnt uns beiden große Unannehmlichkeiten ersparen, wenn Ihr mir die Karten einfach gebt, Capitan.“

Der Spanier schickte innerlich ein Gebet zur heiligen Mutter Gottes und nahm all seinen verbliebenen Mut zusammen: „Ihr verdammten Piraten! Plündert und mordet für ein paar gottlose Schätze. – Seht Euch Spanien an, die Kinder unseres Landes kämpfen noch um Ruhm und Ehre!“

„Dann erscheint es mir offensichtlich, dass jeder von uns für Dinge kämpft, die er nicht besitzt!“

Das selbstsichere Lächeln des Piraten wurde breiter und offenbarte seine strahlenden Zähne, die Conzellon erneut an ein Raubtier erinnerten.

„Die Derroterro bitte, mein Herr. – Mit ihr werde ich in der Lage sein, Eurer heißgeliebten Silberflotte aufzulauern und das ein oder andere Schiff um seine Schätze zu erleichtern.“

„Wisst Ihr nicht, dass jeder Kapitän der Silberflotte schwören muss, sein Schiff eher zu zerstören, als es in die Hände von Piraten fallen zu lassen?“

„Natürlich weiß ich das, - aber es beeindruckt mich nicht sonderlich!“

Hoffnungslosigkeit breitete sich in Capitan Juan Ramirez y Conzellon aus. Mit einem Gefühl der Leere streckte er die Hand mit der Ledermappe aus und reichte sie willenlos dem Piraten.

„Ich bedanke mich für Euer Entgegenkommen, Capitan.“

Captain Jess Morgan drehte sich um und wollte die Kajüte verlassen, als Conzellons Stimme ihn noch einmal zurückhielt.

„Bitte tut meiner Mannschaft nichts, Capitan Morgan.“ Seine Stimme war mehr ein Flüstern, da er die Antwort bereits zu kennen glaubte und die Bestätigung in den mitleidlosen Worten des Piraten erhielt.

Der Pirat stand für einen Moment bewegungslos mit dem Rücken zu ihm in der Tür, bis er seinen Kopf leicht zur Seite drehte und über die Schulter hinweg antwortete:

“Ich versichere Euch, ich werde Euren Männern nichts tun, Capitan. – Das wird das Meer erledigen.“

 

*

 

Als Jess Morgan und Finnegan wenige Augenblicke später das Deck der Nuestra Senora di Hispaniola betraten, war der größte Teil der Männer damit beschäftigt, die Ladung des Schiffes auf die Treasure zu bringen. Jintel und zwei weitere Männer bewachten die Gefangenen, die sich voller Angst zusammendrängten und in dumpfes Brüten verfallen waren. Die Anzahl der Passagiere hatte sich vergrößert. Einige Frauen drängten sich in dem Bemühen, Schutz zu finden, an ihre Männer. Offensichtlich hatte Jintel alle  aus ihren Verstecken getrieben.

Jess verharrte für einen Augenblick und betrachtete nachdenklich die furchtsamen Leute, als das Aufpeitschen eines Schusses die Lethargie der Spanier zerriss, und sie sich erneut bekreuzigten und in Jammern verfielen. Ihr Kapitän hatte nicht den Mut gehabt, ihnen bis zu ihrem unausweichlichen Ende beizustehen. Jess lächelte verächtlich und wandte sich ab, um nach Cale zu suchen. Sein Freund stand neben der Laufplanke zur Monsoon Treasure und überwachte aufmerksam die Verladung ihrer Beute. Einer plötzlichen Eingebung folgend schritt er auf ihn zu.

„Lass die komplette Ladung rüber schaffen, Cale.“

„Die komplette Ladung?“ Cale sah überrascht auf seinen Captain. „Wir lassen keinen Anteil zurück?“

„Wir lassen keinen Anteil zurück!“ Jess verschränkte die Arme vor der Brust und sah Cale gerade in die Augen. Die Verwirrung seines Freundes schlug ihm wie eine Welle entgegen, und er wusste, dass er mit seinen nächsten Worten diese noch steigern würde. „Und wir werden keine Position übermitteln.“ Seine Worte ließen keine Zweifel an seinen Absichten. Cale stand der Schock ins Gesicht geschrieben. Für einen Moment stand er sprachlos neben Jess und schien nicht in der Lage, einen klaren Gedanken fassen zu können. Seine Augen suchten in dem Gesicht von Jess, als könnte er dort einen Grund für diesen Befehl finden. Verwirrt richtete er dann seinen Blick auf die Mannschaft, bis er sich gefasst hatte.

„Aye, Sir.“ Seine Stimme war fest, doch Jess spürte Cales Unsicherheit, als er sich abwandte und über die Laufplanke zurück auf die Monsoon Treasure ging. In seinem Rücken vernahm er die Befehle, die Cale erteilte und spürte die Strömungen seiner Männer, die kurz ins Stocken gerieten und dann ebenso verwirrt wie Cale zu ihm drangen. Seit mehr als einem Jahrzehnt segelte er mit ihnen, und niemals hatten sie die gesamte Beute aufs Schiff verladen; niemals hatten sie das Schiff versenkt, ohne die Position an Waidami zu übermitteln. Jess lächelte grimmig vor sich hin, das würde jetzt anders werden. Mit entschlossenen Schritten ging er über das Hauptdeck der Treasure und kapselte sich von den Strömungen seiner Männer ab, die ihn nur in seinen Gedankengängen störten. Schon seit geraumer Zeit beschäftige ihn die Idee, sich von den Waidami zu lösen. Er fühlte sich wie eine Marionette, die als Waffe fungierte, und das missfiel ihm. Seitdem er denken konnte, überfiel er für sie andere Schiffe, nahm einen kleinen Teil der Beute an sich, ließ den größten Teil zurück und versenkte die Schiffe, um sie für die Schiffsbauer der Waidami nutzbar zu machen. Jess betrat das Achterdeck und beobachtete beiläufig, wie die Crew den Rest der Ladung an Bord brachte und sich dann langsam von der spanischen Galeone zurückzog, ohne die Gefangenen aus den Augen zu lassen. Das Entsetzen malte sich in ihren Gesichtern ab, als sie begriffen, dass die Piraten ihr Schiff verließen. Jeder Einzelne von ihnen musste wissen, was mit den Schiffen geschehen war, die von der Mannschaft der Monsoon Treasure überfallen worden waren. Das Krachen einer kleinen Explosion aus dem Schiffsinneren verriet ihnen ihr Schicksal. Zwei Frauen klammerten sich verzweifelt aufschluchzend an ihre Männer, die die Arme schützend um sie legten und ihnen etwas zuraunten. Einige der Gefangenen sanken ergeben auf die Knie. Als die Treasure mit langen Bootshaken von der Nuestra Senora di Hispaniola abgestoßen wurde, kam Leben in die spanische Mannschaft. Einige rannten unter Deck, um sich den Schaden zu besehen, andere versuchten eilig, die Beiboote zu Wasser zu lassen. Doch McPherson, der Schiffszimmermann der Treasure, hatte mit seiner Explosion dafür gesorgt, dass das Schiff sich schnell auf die Seite legte und somit das Abfieren der Beiboote unmöglich wurde. Es gab kein Entkommen.

Jess lenkte seinen Blick unbeteiligt von der Szene weg und richtete ihn auf seine Männer. Langsam ließ er ihre Strömungen wieder zu sich vordringen. Verwundert bemerkte er die Beklommenheit unter ihnen, als die sinkende Nuestra Senora di Hispaniola langsam und unaufhaltsam vom Nebel verschluckt wurde, bevor das Meer sie gänzlich in seine nasse Umarmung zog. Ein plötzliches Räuspern an seiner Seite ließ ihn aufblicken. Cale stand neben ihm und sah in fragend an: „Welchen Kurs, Sir?“

„Wir gehen wieder auf unseren alten Kurs. Unser Ziel ist der Hafen von Changuinola. Wir benötigen einen neuen Navigator.“

„Aye, Sir!“ Cale wandte sich ab und gab den Befehl an Jintel weiter, der gerade das Achterdeck betrat. Dann drehte  er sich wieder Jess zu.

„Darf ich erfahren, warum wir unser Vorgehen ändern?“ Seine Stimme klang vorsichtig und doch ließ sie erkennen, dass er sich nicht abweisen lassen würde.

Jess betrachtete nachdenklich seinen Freund, dann nickte er.

„Ich habe nicht länger vor, für die Waidami zu segeln“, sagte er bestimmt und richtete seinen Blick offen auf Cale, der die Luft zischend ausstieß. Für einen Moment rang sein Freund um Fassung, doch dann nickte er zögernd.

„Ich verstehe – nein, eigentlich verstehe ich nicht.“ Seine Augen wurden schmal, und er trat einen Schritt zurück. „Woher kommt der Sinneswandel? Seit fünfzehn Jahren kapern wir für die Waidami. Nie hast du auch nur mit einem Wort verlauten lassen, dass dir das nicht gefällt. Und dann, von einem Moment auf den anderen, lösen wir uns? Wieso? Und was das Wichtigste in meinen Augen ist: Glaubst du, sie werden das so einfach akzeptieren?“ Mit jedem Wort war die Stimmung von Cale aufgebrachter geworden, und der sonst so ruhige Erste Maat stand Jess ungläubig gegenüber.

Jess ließ seinen Freund geduldig ausreden, doch eine Falte der Missbilligung grub sich zwischen seine Augen. Für einen Moment erwog er, das Gespräch in seiner Kajüte fortzuführen, als er bemerkte, dass einige Männer versuchten, unbemerkt dem Gespräch zuzuhören. Diese Fragen würden alle Männer beschäftigen, es hatte keinen Sinn, Platz für Gerüchte zu schaffen. Seine Männer folgten ihm bedingungslos, also hatten sie auch ein Recht, von seinen Beweggründen zu erfahren.

„Es handelt sich nicht um einen plötzlichen Sinneswandel. Ich warte bereits seit Jahren auf den passenden Augenblick, mich aus der Abhängigkeit der Waidami zu lösen. Vor zwei Wochen ist der alte Kyle gestorben. Er war unser Navigator und Freund, aber er war in allererster Linie ein Schiffshalter, der die Pflicht hatte, die Positionen unserer versenkten Beuteschiffe an sein Volk zu übermitteln. Er war fanatisch, was diese Pflicht anging und hätte niemals Abstand davon genommen. Seitdem er tot ist, scheint mir der Augenblick gekommen, dass wir auf eigene Rechnung segeln können. Ich bin nicht länger gewillt, nur ein Handlanger zu sein, und ich denke, dass ihr mir da zustimmen werdet.“ Jess hatte seine Stimme erhoben und sah Cale fest in die Augen, bevor er sich der inzwischen auf dem Hauptdeck versammelten Crew zuwandte.

„Wollt ihr wirklich für immer den größten Teil der Schätze an jemand anderen verschenken? An jemanden, der nichts dafür tut, außer uns zu kontrollieren?“ Jess ließ seinen Blick über die Gesichter seiner Männer wandern. Der ein oder andere sah ihn beunruhigt an, doch der größte Teil schüttelte ablehnend mit den Köpfen.

„Wir sind Piraten! Und Piraten segeln dorthin, wo es ihnen gefällt, und nehmen sich, was ihnen gefällt. Wollt ihr euch das für den Rest eures Lebens von einem Volk vorschreiben lassen, mit denen ihr nichts, aber auch gar nichts gemein habt? Wer von euch ist nur ein kleiner Diener und hat Angst, seine eigenen Wege zu gehen? Jeder, der weiterhin für die Waidami segeln möchte, wird von mir im nächsten Hafen abgesetzt. Jeder, der den Mut hat, mit mir zu segeln, wird sicherlich den Zorn dieses Volkes heraufbeschwören, und ich kann euch nicht mehr versprechen, als in Freiheit zu sterben!“ Jess neigte seinen Kopf auf die Seite und sah Cale herausfordernd an: „Also, was sagst du?“

Cales Gesicht wirkte verschlossen, denn er wusste genau, dass die Blicke sämtlicher Männer auf ihm ruhten. Seine Entscheidung würde maßgeblich zu ihren Entscheidungen beitragen, und das wusste auch Jess Morgan, der ihn mit überlegener Miene gelassen beobachtete.

„Denke darüber nach, Cale. Bisher haben wir stets den größten Teil der Beute abgetreten und mussten in regelmäßigen Abständen ein Dorf der Waidami aufsuchen, um von dort Befehle für weitere Überfälle entgegen zu nehmen. Wenn wir uns jetzt dazu entscheiden, weiterhin den Waidami treu zu bleiben, müssen wir uns innerhalb der nächsten Wochen dort wieder melden und werden einen neuen Schiffshalter an Bord nehmen müssen. Alles würde von vorne beginnen, unsere Positionen würden laufend übermittelt, sodass die Waidami immer wissen, wo wir uns gerade aufhalten. Nichts würde unentdeckt bleiben. Jetzt ist die Gelegenheit, ihnen auszuweichen und vielleicht sogar vollständig aus dem Netz zu entwischen. In diesem Moment haben sie nicht die geringste Ahnung, wo wir uns gerade befinden.“

Cale atmete tief ein und verdrehte die Augen.

„Aye, Sir! Bieten wir den Waidami die Stirn!“

Jess lächelte, und der Jubel der Männer drang in den Nebel, wo er sich scheinbar unbemerkt in den dunstigen Schleiern verlor.

 

*

 

Langsam und würdevoll schritten die Seher in einer langen Reihe hintereinander durch den Eingang zur Sichtungshöhle. Ihre langen Umhänge schwangen bei jeder Bewegung schwerfällig mit und hoben sich durch die lavagraue Färbung kaum von der düsteren Atmosphäre in der Höhle ab. Nach einer vorbestimmten Reihenfolge ordneten sie sich in einem weiten Kreis an, der die ganze Höhle ausfüllte, und verharrten stumm in spiritueller Ehrfurcht. Jeder Einzelne schloss die Augen und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Stelle in seinem Inneren, in denen sie fest verschlossen ihre Visionen aufbewahrten. Sie öffneten den Zugang und drangen in ihre Erinnerungen, sortierten die Bilder und bereiteten sich auf die große Zeremonie der Sichtung vor, die zu jedem Neumond stattfand.

Die herrschende Stille wurde von den festen Schritten einer hochgewachsenen, hageren Gestalt unterbrochen, die die Höhle in dem Augenblick betrat, in dem alle Seher mit ihren Vorbereitungen abgeschlossen hatten.

Bairani, der Oberste Seher, trat in den Kreis und ließ seine kalten Augen über die Männer wandern. Wie immer war er in diesem Moment von Gier erfüllt, die ihn zunehmend beherrschte. Die Gier nach den Visionen seiner Seher fraß ihn immer mehr auf. Zu Beginn seiner Zeit als Oberster Seher hatte er von seinem Vorgänger Visionen erhalten, die seit Generationen weitergegeben wurden. Sie zeigten schemenhaft einen Waidami-Piraten, der ihnen entweder den Weg zur absoluten Macht in der karibischen See ebnen oder aber für das Ende der Seher verantwortlich sein würde. Wie genau das vonstattengehen würde, zeigte die Vision nur bruchstückhaft, und nur die beiden möglichen Ergebnisse waren deutlich. Jede Vision der Zukunft offenbarte nur Wege, die beschritten werden konnten, und jeder Seher wusste, dass es immer Möglichkeiten gab, andere Wege einzuschlagen. Für Bairani bedeutete das, dass er diesen Piraten finden musste. Denn in dem Punkt war die Vision eindeutig gewesen: Der Pirat würde zu Bairanis Zeit als Oberster Seher in den Reihen ihrer Piraten auftauchen. Er musste ihn finden, bevor er sich gegen die Waidami stellen konnte, und derart beeinflussen, dass sie und damit er selbst an Macht in der karibischen See gewannen und die verhassten Spanier zurückdrängten. Bairani betrachtete die Gesichter der Männer, die seltsam entrückt schienen, genauer. Sein Blick blieb an zwei der älteren Seher hängen, die beieinanderstanden. Ronam war der älteste von ihnen und hatte einen widerspenstigen Charakter. Auf dem Weg zur Sichtungszeremonie hatte der alte Mann tatsächlich den Mut gehabt, ihn aufzuhalten.

„Besinne dich auf den Ursprung der Seher und höre endlich damit auf, die Karibik mit Piratenschiffen heimzusuchen!“, hatte er gefordert. Und dies war nicht das erste Mal gewesen. Bairani widerstand dem Drang, die Fäuste zu ballen, und richtete seine Aufmerksamkeit unauffällig auf Tamaka. Der Mann hatte eine ungewöhnliche Gabe die Zukunft zu sehen, vielleicht würde er den Piraten entlarven. Doch manchmal zweifelte Bairani an Tamakas Loyalität und war sich nicht sicher, ob er auch alle Visionen offenbarte, die er empfing. Die Zeremonie der Sichtung war eingeführt worden, um alle Visionen dem Obersten Seher zugänglich zu machen. Nicht alle erhielten dieselben Bilder, manche konnten sogar nur Dinge sehen, die in der Vergangenheit geschahen oder in der Gegenwart.

Mit jeder Sichtungszeremonie hoffte er, endlich die Vision zu finden, die ihm den Piraten deutlich zeigte, doch bisher war niemals eine Spur von ihm aufgetaucht. Selbst unklare Visionen, wie sie an ihn weitergereicht worden waren, waren nicht mehr erschienen. Bairani atmete tief ein und breitete seine Arme aus, um mit der Zeremonie zu beginnen.

 

*

 

Torek rannte, so schnell er konnte durch die langen Gänge zur Sichtungshöhle. Der Weg erschien ihm unendlich weit, und die Worte seiner Mutter hallten in ihm nach: „Lauf so schnell du kannst, Torek. Du musst in die Sichtungshöhle bevor die Zeremonie vorbei ist.“

Eigentlich verstand er nicht wirklich die Eile, aber sie hatte fast panisch geklungen. Er hatte kaum Zeit gehabt, sich anzuziehen, so schnell hatte sie ihn aus der Hütte gedrängt. Seine Beine fühlten sich bereits schwer an, nachdem er den Aufstieg zu der weiter oben am Vulkankrater gelegenen Höhle hinter sich gebracht hatte. Jetzt schienen die Gänge nicht enden zu wollen. Er rannte atemlos um jede neue Biegung, in der Hoffnung endlich die Zeremonienhöhle vor sich zu haben, aber er wurde jedes Mal aufs Neue enttäuscht. Ein Wächter, an dem er vorbei hastete und im Laufen nach dem Weg fragte, deutete ihm eine Treppe zu nehmen, die steil nach unten führte. Torek stolperte und fiel einige der in den Felsen gehauenen Stufen nach unten. Er war so erschöpft, dass er am liebsten liegen geblieben wäre, doch entschlossen rappelte er sich auf. Sein Blick folgte dem Gang, an dessen Ende er einen rötlichen Schein erkennen konnte. Offensichtlich gab es hier keine weiteren Abzweigungen, und er schien endlich die Höhle erreicht zu haben. Leise gemurmelte Worte drangen an seine Ohren. Jetzt war er sich sicher. Mit neuer Energie erfüllt lief der Junge los und stürmte auf den Eingang der Sichtungshöhle zu. Für einen Moment dachte er daran, ob der Oberste Seher ihn bestrafen würde, weil er die Zeremonie störte. Doch er verfolgte den Gedanken nicht weiter, als er durch den Eingang stürzte, hastig über den Kreis der Seher blickte  und sich vor Bairani auf den Boden warf, der gerade die Arme ausgebreitet hatte, um mit der Zeremonie zu beginnen.

 

*

 

Der Oberste Seher ließ unwillig die Arme sinken und schenkte dem Jungen zu seinen Füßen einen vernichtenden Blick. Doch irgendetwas flüsterte ihm zu sein, dass dies eine wichtige Unterbrechung war. Er zwang sich zu einem verständnisvollen Lächeln.

„Was ist so eilig, junger Torek, dass du die Sichtung aufhältst?“ Seine Stimme klang krächzend und ließ den Jungen vor ihm erschaudern.

„Ich … hat-te Vi-sionen …“ Der Junge stotterte vor Aufregung und blickte voller Furcht auf den Obersten Seher, der vor ihm aufragte und auf ihn hinabsah.

Bairani nickte langsam und hob erstaunt eine Augenbraue. Der Onkel des Jungen war Seher gewesen und vor einigen Tagen verstorben. Die Fähigkeit des Sehens wurde immer in der Familie nach dem Tode eines Sehers weitervererbt. Er hatte sich schon gefragt, wer der Erbe sein würde und wann sich die Gabe bei ihm zeigte. Doch normalerweise kamen Visionen erst langsam und wurden erst mit der Zeit ausgeprägter. Zu Anfang waren es eigentlich nur einzelne, undeutliche Bilder, niemals eine ganze Vision, geschweige denn mehrere. Er beugte sich neugierig vor und hielt Torek seine knöchernen Hände entgegen, um ihm aufzuhelfen. Dann machte er eine einladende Bewegung in die Runde der Seher.

„Sei willkommen zur Sichtungszeremonie, Seher Torek, und offenbare uns deine Visionen.“

„Ich weiß nicht, wie …“ Torek sah sich unsicher mit weit aufgerissen Augen um und stellte sich zwischen Tamaka und Durvin, die beide seinen Onkel gut gekannt hatten und ihn bereitwillig in ihre Mitte nahmen.

„Wir leiten dich.“ Bairani sah ihn auf eine hypnotisierende Art an. Torek zog den Kopf ein wenig zwischen die mageren Schultern.

Erneut breitete Bairani mit einer demonstrativ langsamen Bewegung die Arme aus und ließ sie nach oben wandern. Sein Blick schien nach innen gerichtet, während er unablässig die Worte der Alten Sprache murmelte.

Ein Seher nach dem anderen folgte seinem Beispiel, bis sich ihr Kreis schloss. Ihr Murmeln vereinigte sich zu einem Chor, der immer mehr anschwoll, eine Art Netz webte und sich bis zu der weit über ihnen liegenden Höhlendecke ausbreitete. Das Murmeln brach abrupt ab, als Bairani seine Arme sinken ließ und gemächlich den Kreis der Männer abschritt. Es herrschte eine vollkommene Stille, die durchdrungen wurde von der fühlbaren Präsenz der Visionen, die die Seher seit der letzten Zeremonie gehabt hatten und jetzt unterschwellig brodelnd unter der Oberfläche darauf warteten, endlich ausbrechen und sich zeigen zu können. Bairani blieb vor Torek stehen, dessen Visionen völlig durcheinander waren und nur mühsam von ihm zurückgehalten werden konnten. Der Oberste Seher wollte gerade dem Jungen helfen, die Bilder geordnet zu entlassen, als ihn etwas Unbestimmtes zu Tamaka blicken ließ. Misstrauisch verengte er seine Augen, als er deutlich spürte, dass Tamaka vollkommen gelassen dastand und nur wenige Visionen aufzubewahren schien. In diesem Augenblick wünschte sich Bairani inbrünstig, ein Mittel zu besitzen, um jeden Seher zur Offenbarung sämtlicher Visionen zwingen zu können. Er war sich sicher wie nie zuvor, dass Tamaka etwas verschwieg. Bairani knurrte innerlich und zwang sich wieder dazu, seine Aufmerksamkeit auf Torek zu richten, der ihn schüchtern ansah. In einer fürsorglichen Geste legte er eine Hand zwischen die Augen des Jungen, dann schloss er selbst seine Augen. Bedächtig löste er sich von Torek, der ruhiger geworden war, und ging zurück in die Mitte des Kreises. Vor seinen geschlossenen Augen zeichneten sich die Seher als Schemen ab, von deren Schultern sich nun kaum wahrnehmbare Schatten lösten und über die Gruppe schwebten. Dort begannen sie sich zu verdichten und formierten sich zu einer Kuppel aus unzähligen Bildern, die sich über die Seher legte und sie vollkommen einschloss.

Bairani drehte sich einmal um seine eigene Achse, um sich einen Überblick über die Visionen zu verschaffen. Er entdeckte drei neue Kinder, die als Kapitäne auserwählt waren, doch schenkte er ihnen momentan keine Beachtung. Sein Blick wanderte die Reihen entlang, vorbei an dem Tod einiger Stammesmitglieder, Geburten, Streitigkeiten; alles Dinge, die für ihn nicht weiter von Belang waren. Die alltäglichen Dinge des Volkes interessierten ihn schon lange nicht mehr. Er strebte mit seiner ganzen Seele danach, die Macht der Waidami auszubauen und die Spanier aus der karibischen See zurückzudrängen. Mit Genugtuung entdeckte er den Bau von weiteren Waidami-Schiffen, als sich überraschend die noch etwas unklaren Bilder von Torek in den Vordergrund drängten. Die Visionen schwangen in ihrer Position unruhig auf und ab und waren kaum zu fassen. Bairani ging kurzerhand zu dem Jungen und legte ihm wieder die Hand zwischen die Augen. Sofort beruhigte sich das Bild. Bairani hielt unwillkürlich den Atem an. Vor ihm zeichnete sich das deutliche Bild von einer leblosen Gestalt ab, die Bairani als Kyle, den Schiffshalter, erkannte, der auf der Monsoon Treasure seinen Dienst versah. Das Bild verschwamm, und ein neues Bild formierte sich. Die Gestalt von Captain Jess Morgan erschien in überklarer Deutlichkeit, der vor seiner Crew eine Rede gegen die Waidami führte, der die Männer mit lautem Jubel zustimmten. Der Jubel schien die ganze Höhle auszufüllen und wurde von den Wänden zurückgeworfen, bis Bairani mit einer unwirschen Bewegung die Vision wegschob. Doch sofort reihte sich ein weiteres Bild ein. Bairani konnte nicht glauben, dass ein frischer Erbe in der Lage war, solche klaren Visionen in dieser Anzahl zu empfangen. Das neue Bild, das sich ihnen offenbarte, zeigte, wie die Monsoon Treasure andere Waidami-Schiffe in einer Schlacht versenkte, und ging dann fließend in das Gesicht eines rothaarigen Mädchens über, dessen funkelnde Augen für einen Moment die ganze Höhle in smaragdgrünes Licht tauchten. Bairani lenkte seinen Blick wie eine Schlange, die gerade erst eine Beute entdeckt hatte, auf Tamaka, der bleich neben Torek stand und die Bilder verfolgte. Als er spürte, dass Bairani ihn beobachtete, trafen sich ihre Blicke. Tamaka senkte entsetzt den Kopf. Der Oberste Seher sah mit Genugtuung, dass dem Seher bewusst war, dass er seine Tochter erkannt hatte. Sein Gesicht verzog sich zu einem hässlichen Lächeln. Captain Jess Morgan also! Endlich wusste er, wer der Gesuchte war.

„Schluss! Das ist genug für heute. Wir wollen unseren jungen Seher nicht überanstrengen. Ihr könnt gehen.“ Mit einer herrischen Geste beendete Bairani abrupt die Sichtung und scheuchte die Seher aus der Höhle. Er hatte das, was er brauchte. Mit berechnenden Blicken verfolgte er, wie die Seher die Höhle verließen. Als Tamaka an ihm vorbei wollte, hielt Bairani ihn mit einem boshaften Lächeln zurück.

„Wie wir alle gesehen haben, benötigt die Monsoon Treasure dringend einen neuen Schiffshalter. Finde heraus, wo Jess Morgan sich aufhält und schicke deine Tochter zu ihm. Jedoch möchte ich, dass sie sich nicht als Schiffshalter zu erkennen gibt, sondern lediglich als Navigator an Bord geht. Sie soll ihn beobachten, soll herausfinden, ob er uns weiterhin treu ergeben ist, und ich möchte regelmäßig Positionsangaben haben.“ Er kicherte leise, als er sah, wie der Mann ergeben die Augen schloss. Die Vision hatte interessante Figuren ins Spiel gebracht, und Bairani war sich sicher, dass er Jess Morgan wieder auf seine Seite würde ziehen können.

„Wie du befiehlst, Bairani!“ Tamaka verbeugte sich steif und wandte sich dann ab, um den anderen Sehern eilig zu folgen.

Abschiede

 

Tamaka beeilte sich, den anderen Sehern aus der Höhle zu folgen. Er musste sofort Lanea aufsuchen und ihr mitteilen, dass sie auf die Monsoon Treasure gehen würde.

Der Seher lächelte still vor sich hin, doch gleichzeitig lauerte ein Gefühl der Beklommenheit in seinem Herzen. Es war so weit, es gab kein Zurück mehr. Die Dinge würden jetzt ihren Lauf nehmen, ob er es wollte oder nicht. Er konnte nur versuchen, dass alles so geschehen würde, wie er es in seinen Visionen gesehen hatte. Bairani ahnte offensichtlich nicht, welche Rolle Lanea dabei spielen würde … Allerdings machte ihm die Intensität der Visionen, die Torek empfing, Sorgen. Der Junge hatte noch mehr Visionen gehabt, doch Bairani hatte sie bewusst zurückgehalten, als würde er ahnen, dass sie für ihn noch von Wert sein konnten.

Tamaka war froh, als der Dschungel sich lichtete und die ersten Hütten zwischen den Pflanzen zu sehen waren. In der Bucht hinter dem Dorf lagen zwei Segelschiffe. Das eine war klein und wenig auffällig, da es sich auch nur um einen Handelsfahrer handelte. Ein Stück dahinter ragten die Masten der riesigen Darkness in den Himmel. Der majestätische Dreimaster von Captain Stephen Stout ließ keinen Zweifel daran, für welchen Zweck er gebaut worden war. Tod und Zerstörung lauerten zwischen jeder einzelnen Planke und hingen wie eine unausgesprochene Drohung über der trügerisch ruhigen See. Sie war bisher das größte und mächtigste Schiff der Waidami, und ihr Captain schreckte vor keiner grausamen Tat zurück.

Tamaka schauderte leicht. Die Zeit lag im Wandel, und es würde in nächster Zeit viel geschehen. Als er die Mitte des kleinen Dorfes erreichte, sah er bereits, wie fast sämtliche Bewohner dort im Kreis versammelt waren.

Im Zentrum der Gruppe konnte er Merka ausmachen. Sie war die älteste Frau, die er jemals gesehen hatte, und war schon alt gewesen, als sein eigener Vater auf die Welt gekommen war. Sie erzählte gerne die Legenden der Göttin Thethepel. Stets gelang es ihr aufs Neue, ihre Zuhörer in einen Bann zu schlagen, der es unmöglich machte, diese Geschichten nicht hören zu wollen.

Merka schien gerade mit ihren Erzählungen fertig geworden zu sein, und Tamaka entdeckte direkt neben ihrer im Laufe der Jahre verkrümmten Gestalt Lanea, die zusammen mit ihrer Freundin Tahuna mit der einzigartigen Faszination von jungen Menschen ihren Worten lauschte.

„… aber die Göttin spricht nicht mehr mit uns“, sagte die alte Frau gerade mit ihrer knarrenden Stimme. Tamaka vernahm die unterschwellige Aufforderung darin und sah sie interessiert an.

„Warum spricht sie nicht mehr?“ Seine Tochter brannte vor Neugierde, und Tahuna nickte neben ihr beifällig mit dem Kopf, sodass ihre langen schwarzen Haare aufschwangen und der Bewegung voller Lebenslust folgten.

„Sie ist verschwunden …!“ Echtes Bedauern lag in den Worten, und Merka ließ ihren Blick an den grün überwucherten Hängen des Vulkans hochwandern.

Die Umsitzenden sahen sie eine Weile schweigend an, gefangen von der plötzlich entstandenen düsteren Atmosphäre. Abwartendes Schweigen herrschte, das von Lanea unterbrochen wurde.

„Wieso ist sie verschwunden – und wohin?“

Tamaka erstarrte, als er den Ausdruck in den Augen der alten Merka sah, mit denen sie ausgiebig seine Tochter musterte. Ein Wissen lag darin, das ihn zutiefst erschreckte.

„Sie und Pa’uman sind bestraft worden.“ Ihre Worte tropften in die Stille. Nur das gleichmäßige Geräusch der Wellen, die gegen den Strand rollten, unterbrachen diese, als weigerten sie sich, sich von den Worten aufhalten zu lassen. „Der Vater Thethepels war sehr erzürnt über ihre Leichtlebigkeit. Über ihre Liebe zu Pa‘uman vergaß sie die Verantwortung, die sie übernommen hatte, als sie die Waidami erschaffen hatte. Sie kümmerte sich nicht mehr darum, was für ein Leid die Piraten, die ihr Volk aussandte, über die Menschen brachten. Thethepel sah nur noch Pa’uman, und Pa’uman richtete ebenfalls sein ganzes Dasein auf die Göttin. Da beschloss ihr Vater Mako’un, sie zu bestrafen, und raubte ihnen ihre unsterblichen Seelen …“ Merka machte eine Pause, und ihre Worte hingen in all ihrer Unvollständigkeit wie eine Wolke über den Köpfen der Zuhörer. „Niemand weiß genau, wo sie jetzt sind, und ob sie je wiederkehren werden.“

Die Stille war ungebrochen. Tamaka konnte seinen Blick nicht von der alten Merka wenden, die ihrerseits Lanea anstarrte. Doch plötzlich richteten sich ihre Augen gezielt auf Tamaka und durchbohrten ihn mit den feinen Nadelspitzen der Weisheit.

Der Seher versuchte, gelassen dem Blick standzuhalten, doch innerlich brodelte er. Erleichtert verlief sich seine Erregung, als sie ihren Blick wieder von ihm löste und dann lächelnd über die Runde gleiten ließ. Mit dem Lächeln wurde der Bann aufgehoben. Das Leben kehrte in die Zuhörer zurück, und schnell entwickelten sich lebhafte Unterhaltungen unter den Dorfbewohnern. Tamaka beschränkte sich darauf, sein Augenmerk wieder auf seine Tochter zu richten.

Lanea kicherte unbeschwert, während Tahuna ihr etwas ins Ohr flüsterte und mit geschickten Fingern das rote Haar von seinem Zopf erlöste. Die Flut der Haare flatterte kurz auf, als Tahuna sie mit beiden Händen hochhielt und dann über die Schultern der Freundin fallen ließ, als wäre es flüssiges Feuer.

Der Anblick versetzte Tamaka einen Stich. Lanea sah aus wie das vollkommene Abbild ihrer Mutter Nahila, die nicht weit von ihr zwischen den anderen Frauen saß und sich angeregt unterhielt. Als sie seinen Blick auf sich spürte, hob sie ihr Gesicht, und Tamaka sah, wie sich ihre dunkelbraunen Augen – der einzige Unterschied zu Lanea - für einen Wimpernschlag weiteten. Von einem Augenblick auf den anderen war sie ernst geworden. Mit einer geschmeidigen Bewegung stand sie auf, glättete beiläufig ihren langen Rock und ging dann auf ihn zu. Ihre ebenfalls flammend roten Haare hatte sie locker an ihrem Hinterkopf zusammengesteckt. Tamaka stellte mit einem leichten Schaudern fest, dass sie ihm immer noch mit ihrer Erscheinung den Atem zu rauben vermochte. In ihrem Gesicht aber lag die Furcht vor dem Unausweichlichen, als sie mit fragendem Blick vor ihrem Mann stehen blieb.

Tamaka schloss für einen Moment die Augen. Das innige Gefühl für diese beiden Frauen drohte ihn zu überwältigen.

„Es ist so weit!“ Er öffnete die Augen und sah sie fest und unumwunden an.

Nahilas Blick flatterte wie ein verschreckter Vogel zu Lanea und kehrte dann zu ihm zurück. Sie zitterte, und Tamaka schloss seine Arme um sie, froh noch den Trost ihrer Nähe spüren zu können.

„Ich hatte gehofft, dass dieser Tag nie kommen würde …“ Nahila seufzte voller Schmerz und legte ihren Kopf an seine Brust.

„Ich weiß, aber es ist ihre Bestimmung – und sie muss ihr folgen.“ Tamaka sprach gepresst.

Nahila löste sich aus seinen Armen und sah traurig zu ihrer Tochter hinüber.

„Die ruhigen Jahre sind also vorüber. Wann wird sie uns verlassen?“

„Noch heute Abend wird sie an Bord der Tsunami gehen und morgen Waidami verlassen. Es ist besser, wenn sie das Dorf so schnell wie möglich verlässt.“ Er zögerte kurz, bevor er weitersprach, und sah sich unauffällig um, ob ihnen jemand zuhören konnte. „Und du auch! Bereits heute wird er damit beginnen, vermeintliche Verräter zu beseitigen. Ich werde dich von hier fortbringen und dann Lanea hinterher segeln, damit ich sie und Jess auf den richtigen Weg bringen kann.“

Nahila lächelte, obwohl sie mit den Tränen kämpfte.

„Dann werde auch ich mit den Vorbereitungen beginnen.“ Sie gab ihm einen Kuss voller Liebe und Verzweiflung, dann schlug sie den Weg zu ihrer Hütte ein.

Tamaka sah ihr nach. Das Gefühl, die Trennung von ihr nicht verkraften zu können, raubte ihm für einen schmerzvollen Augenblick den Verstand. Er atmete mehrmals tief durch, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Lanea.

Sie folgte gerade dem Blick ihrer Freundin Tahuna zu Kamun, einem jungen Krieger, dessen Aufgabe es war, die Seher zu beschützen. Er stand aufrecht und stolz zwischen den anderen jungen Männern und betrachtete voll verliebter Gutmütigkeit Tahuna. Tamaka vermutete, dass Tahuna ihrer Freundin wohl gerade eröffnet hatte, dass Kamun bei ihrem Vater vorgesprochen hatte, um sie zur Frau zu nehmen. Ronam hatte ihm davon erzählt.

Gerade fielen sich die beiden jungen Frauen wieder lachend in die Arme. Er lächelte bitter, würde doch dieser Tag für viele einen Abschied bereithalten, von dem sie noch nichts ahnten.

Tamaka straffte seine Schultern und ging dann um die Leute herum, bis er sich seiner Tochter von der Seite her näherte. Als er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt war, bemerkte sie ihn und sah ihn voller Wärme an. Eine Hand huschte schuldbewusst zu ihren offenen Haaren, da sie wusste, wie sehr er es missbilligte, wenn sie ihre Haarpracht so ungebunden und wild präsentierte wie jetzt.

„Vater!“ Lanea schlug entschuldigend die Augen nieder, bevor sie ihn mit einem gekonnten Augenaufschlag verschmitzt anlächelte. Seit sie ein kleines Mädchen war, konnte sie mit diesem Blick fast alles bei ihm erreichen, doch heute nicht. Heute konnte er ihr nicht mehr zugestehen, als dass er über die Haare kein Wort verlieren würde.

„Lanea, es gibt ein Schiff, das einen neuen Schiffshalter benötigt. Der Oberste Seher hat dich heute dazu bestimmt, dass du an Bord der Monsoon Treasure gehen wirst und dort unter Captain Jess Morgan als Schiffshalterin dienst.“ Seine Worte klangen schroffer, als er es beabsichtigt hatte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie auf Tahunas glatter Stirn eine steile Falte entstand. Lanea hingegen sah ihn fassungslos an, als hätte sie kein Wort von dem verstanden, was er gerade zu ihr gesagt hatte.

 

*

 

Nahila hatte sich schon so lange vor diesem Augenblick gefürchtet, dass sie nicht mehr mit Bestimmtheit sagen konnte, wann sie jemals ohne Furcht gewesen war. Die Furcht war wie ein blutrünstiger Moskito, der sie zeit ihres Lebens umschwirrte, um sich dann gnadenlos auf sie zu stürzen, in dem Moment als sie endlich zur Ruhe kam. Der Kloß in ihrer Kehle schwoll immer mehr an und verhinderte, dass sie ruhig atmete. Gleichzeitig quälten sich die lang zurückgehaltenen Tränen aus ihren Augen. Sie fluchte verhalten und ließ ihren Tränen freien Lauf, während sie weiter auf den Rand des Dorfes zustrebte. Bevor sie den Weg in den Dschungel einschlug, um zu ihrer abseits gelegenen Hütte zu gelangen, sah sie eine große Gestalt vom Strand heraufkommen. Nahila verhielt ihre Schritte und hatte das entsetzliche Gefühl, dass ein Alptraum wahr geworden war.

Ein Schauer nach dem anderen lief über ihren Rücken. Captain Stephen Stout ging mit schweren Schritten in das Dorf. Nahila blinzelte mit den Augen und wischte sich dann mit dem Handrücken darüber, als würde das Bild des brutalen Piraten dadurch verschwinden wie ein Gespinst. Doch das Bild blieb, und Nahila drängte sich gegen die staubige Wand einer Hütte. Wenn er sie jetzt wahrnahm … Er wurde nicht umsonst das Messer Bairanis genannt!

Tamaka hatte also Recht gehabt. Den Piraten war es nur erlaubt, das Dorf zu betreten, wenn Bairani ihnen es befohlen hatte. Wenn Stout sich also in das Dorf begab, konnte das nichts Gutes bedeuten, und sie mussten so schnell wie möglich Waidami verlassen. Nahila stöhnte auf. Es ging jetzt alles so schnell. Als sie sich vorsichtig von der Hütte abstieß und weiterging, hatte sie kaum mehr die Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Heute würde sich ihr ganzes bisheriges Leben in Nichts auflösen. Nur der Gedanke, dass es wichtig für Lanea war, ließ sie weiter gehen. Heute würde sie sich von ihrer Tochter verabschieden und bald auch schon von Tamaka – und sie würde nicht wissen, ob sie die beiden jemals wiedersehen würde.

Sie zitterte unkontrolliert und richtete ihren Blick in den klaren Himmel, der sich scheinbar ungetrübt über ihr ausbreitete. Nahila hoffte inständig, dass ihre Ahnen die Wege ihrer Familie richtig lenkten.

 

*

 

Tahuna ging ein Stück von Lanea und ihrem Vater zurück, um sie in Ruhe miteinander sprechen zu lassen und ließ ihren Blick über die anwesenden Dorfbewohner gleiten. Sie vermisste ihren Vater Ronam. Inzwischen hatten sich alle anderen Seher der Runde angeschlossen, und nur er fehlte. Besorgt runzelte sie die Stirn. Er war in den letzten Tagen sehr verschlossen gewesen und hatte einen kranken Eindruck auf sie gemacht. Wahrscheinlich hatte er sich in seine Hütte zurückgezogen, um Ruhe zu suchen. Immer öfter war er sehr erschöpft, wenn er von Begegnungen mit dem Obersten Seher zurückkehrte, doch er sprach nie darüber, was ihn so sehr anstrengte. Tahuna wandte sich mit dem plötzlichen Gefühl, sofort nach ihm sehen zu müssen, an Lanea, die ihre Haare schnell wieder zu einem Zopf geflochten hatte, um ihren Vater nicht zu verärgern. Einen Moment verharrte sie in dem Anblick ihrer Freundin; überdachte die Neuigkeit von Tamaka, dass Lanea an Bord eines Piratenschiffes gehen würde. Dies war ihr letzter Moment. Es war so aufregend, Lanea würde Captain Jess Morgan treffen … Tahuna war ihm ein einziges Mal zusammen mit Shamila, der Tochter von Bairani, begegnet. Sie hatten sich damals im Gebüsch versteckt, um heimlich die Piratenkapitäne zu beobachten, die zu einem Treffen den Vulkan hochsteigen sollten. Es war strengstens verboten, sich in die Nähe der Piraten zu begeben, da sie von den Dorfbewohnern als tollwütige Hunde bezeichnet wurden. Jess Morgan war der Erste gewesen, der den Weg hochkam. Tahuna konnte sich noch genau daran erinnern, wie er den steilen Berg hochgeschlendert war, ohne auch nur das kleinste Zeichen von Anstrengung zu zeigen. Shamila und sie hatten den Atem angehalten, als er immer nähergekommen war. Dann war er genau vor ihrem Gebüsch stehengeblieben und hatte gezielt in ihre Richtung geblickt. Seine Blicke aus den eisblauen Augen waren mühelos durch die Blätter gedrungen, als wären sie nicht da gewesen, und er hatte gelächelt.

„Macht, dass ihr fortkommt“, hatte er gesagt. Dann hatte er den Weg zurückgeblickt und sie beide mit schnellem Griff aus dem Gebüsch gezogen. Er hatte sie von oben bis unten angesehen und war plötzlich ernst geworden. „Die anderen lassen zwei Mädchen wie euch nicht einfach wieder gehen. Seht also zu, dass ihr ihnen aus dem Weg geht.“ Sie hatten beide dagestanden, ihn angestarrt, unfähig zu sprechen und waren langsam wieder rückwärts im Gebüsch verschwunden. Ihre Blicke hatten sie kaum von ihm wenden können, denn er blieb dort stehen, bis sie den Berg ins Dorf hinunterliefen. Tahuna seufzte, er war damals so gefährlich und doch so … anziehend erschienen. Hoffentlich würde ihre Freundin ihr eines Tages von ihm erzählen.

Sie berührte Lanea sacht am Arm.

„Lanea, ich werde nach meinem Vater sehen. Ich glaube, es geht ihm nicht gut. Er erschien mir die letzten Tage schon nicht wohlauf.“

„Soll ich dich begleiten?“ Lanea sah ihre Freundin besorgt an.

„Nein, genieße deine letzten Augenblicke hier, bevor du leibhaftigen Piraten gegenüberstehst.“ Tahuna kicherte und schloss ihre Freundin fest und voller Zuneigung in die Arme. „Ich wünsche dir alles Gute, und dass du so ein Glück findest, wie ich es auch gefunden habe.“

„Ja, das wünsche ich mir auch – und dir wünsche ich ein ganzes Dorf voller Kinder mit Kamun.“ Diesmal war es Lanea, die kicherte, und ihre Freundin ebenfalls von ganzem Herzen drückte.

Tahuna grinste, und beide Frauen ließen ihre Arme sinken, als wüssten sie nicht, wie sie sonst ein Ende finden sollten. Dann drehte sich Tahuna um und eilte davon.

 

*

 

Tamaka sah der jungen Frau nach, die mit eiligen Schritten nach Hause ging. Ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus, und er presste fest die Lippen aufeinander. Dann wandte er sich wieder seiner Tochter zu, die einen glücklichen, wenn auch wehmütigen Ausdruck im Gesicht hatte. Sie blickte der Freundin hinterher und richtete dann ihre grünen Augen auf ihn.

„Sie ist so glücklich. Ich wünschte, ich könnte hierbleiben und …“

Tamaka schüttelte entschieden den Kopf.

„Nein, dein Schiff wird morgen früh bereits Waidami verlassen!“, antwortete er eine Spur zu scharf, wie er selbst missbilligend bemerkte. Lanea sah ihn auch verwundert über den ungewohnten Ton an, sagte aber nichts.

„Wenn du nicht rechtzeitig an deinem Ziel ankommst, könnte es sein, dass du Jess Morgan verpasst.“ Tamaka sprach nun sanfter und griff nach ihrer Hand. „Es ist wichtig – sehr wichtig, dass du auf die Monsoon Treasure gehst. Aber das bereden wir zu Hause, nicht hier.“ Er sah sich um, und sein Blick blieb noch einmal auf der alten Merka hängen. Ihre Augen, in denen so viel beunruhigendes Wissen lag, trafen die seinen. Unwillkürlich beschleunigte sich sein Herzschlag für einen Moment, als hätte sie ihn bei etwas Unrechtem ertappt.

„Verabschiede dich von den Leuten, Lanea. Danach gehen wir nach Hause, und ich erkläre dir deinen Auftrag, während du deine Sachen packst. Du wirst noch heute Abend an Bord der Tsunami gehen. Captain Makani wird dich bereits erwarten.“

„Wieso die Eile, Vater?“ Lanea hatte das Gesicht unwillig verzogen.

Tamaka kannte sie gut genug und wusste, dass sie voller Unsicherheit war. Sie wollte nie wirklich eine Schiffshalterin werden. Aber bei den Waidami wurden jedem von Geburt an eine Aufgabe zugeteilt. Die Seher befanden gemeinsam darüber, wofür ein Kind wohl zukünftig in der Gemeinschaft am geeignetsten erschien. Bei Lanea hatte es nie einen Zweifel gegeben, und so war sie in diese Rolle gedrängt worden, die sie jedoch immer am liebsten abgelehnt hätte. Die Schiffshalter begleiteten die Piratenschiffe, hauptsächlich um den Kontakt zu den Waidami zu halten. Sie gaben laufend die Positionen durch, an denen sich das Schiff gerade befand, oder wo Beuteschiffe versenkt wurden, die dann so später zu den Schiffsbauern geschleppt werden konnten.

Da er und seine Frau stets nur voller Verachtung über die Piraten sprachen, hatte sie bereits als kleines Mädchen begonnen, die Piraten zu fürchten. Und nun schickte er sie selbst auf ein solches Piratenschiff! Er konnte sie so gut verstehen, und Tamaka hasste sich selbst dafür. Er hasste sich für seinen Auftrag, mit dem er Lanea Dingen aussetzte, von denen er selbst nur eine vage Vorstellung hatte.

„Es muss sein, vertrau mir einfach.“

Lanea nickte und lächelte ihn dann zaghaft an.

„Ich vertraue dir, Vater.“ Sie drückte seine Hand, bevor sie sich umdrehte und begann, sich von jedem Einzelnen zu verabschieden.

Tamakas Herz wurde schwer, während er dabei zusah. Die meisten nahmen Lanea in die Arme und drückten sie herzlich. Mancher junge Mann sah sie enttäuscht an. Als Lanea sich schließlich der alten Frau zuwandte, stockte Tamaka für einen Moment der Atem. Die Alte wickelte sich eine Strähne, die aus der Gefangenschaft des Zopfes geflüchtet war, um ihre knochigen Finger.

„Folge nur deinem Weg, Kind – dann wirst du dich selbst finden.“ Ihre Stimme klang heiser, dann löste sie die Strähne von ihren Fingern und streichelte Lanea sanft über die Wange, die ihr spontan einen Kuss gab. Mit einem Lächeln, das nur jemand kennt, der so viel Zuneigung erfährt, drehte sich Lanea zu Tamaka um.

„Lass uns gehen, Vater.“

Lanea ging vor ihrem Vater her und bemerkte nicht die unsicheren Blicke, die er auf die Hütte von Tahuna und ihrem Vater Ronam warf, als sie daran vorbeikamen.

 

*

 

Tahuna ging schweren Herzens. Sie würde Lanea vermissen, aber sie freute sich auch auf die vor ihr liegende Zeit mit Kamun.

Als sie vor der Hütte ihres Vaters anlangte, bemerkte sie verwundert, dass die einfache Holztür offenstand. Tahuna beschleunigte ihre Schritte, aus irgendeinem Grund hatte ihr Vater die Tür nicht schließen können. Sorge fraß sich wie ein ungebetener Gast in ihr Herz, und sie schritt mit bangem Gefühl in das Innere.

„Vater? Ist alles in Ordnung?“ Ihre Worte tropften überlaut in die Stille. Besorgt ließ Tahuna ihren Blick durch den Hauptraum schweifen. Keine Spur von ihrem Vater! Sie wollte gerade den Vorhang zu dem Schlafraum ihres Vaters beiseiteschieben, als ihre Augen sich plötzlich weiteten und sie die Hand entdeckte, die unter dem schweren Stoff hervorragte. Das Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu und ließ ihre Zunge zu einem unförmigen Klumpen anschwellen. Sie wollte schreien, irgendetwas sagen, doch kein einziger Laut kam über ihre Lippen.

Im selben Augenblick wurde der Vorhang langsam zur Seite geschoben. Ihr Blick ruhte fassungslos auf ihrem Vater, der leblos auf dem Boden lag. Erst dann wanderten ihre Augen in entsetzlicher Langsamkeit auf die riesige und klobige Gestalt, die sich in den Rahmen schob. Stephen Stout! Tahuna keuchte auf. Seine kalten Augen betrachteten sie desinteressiert, und mit einem unangenehmen Lächeln seines breiten Mundes präsentierte er ihr ein blutbeflecktes Schwert.

Immer noch stumm vor Entsetzen, drehte sich Tahuna auf der Stelle um und rannte kopflos aus der Hütte und in den direkt dahinter liegenden Dschungel. Sie lief blind und voller Panik. Ihr Herz raste und klopfte mit schmerzhaften Schlägen in ihrer Brust und in ihrem Kopf. Sie war nicht mehr in der Lage, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen und schlug wie blind mit ihren vorgestreckten Armen die Zweige und Blätter aus ihrem Weg. Der Pirat musste dicht hinter ihr sein. Sie spürte es mit erschreckender Gewissheit, auch wenn sie keinen Laut um sich herum wahrnehmen konnte, außer ihren eigenen keuchenden Atem und das Blut, das durch ihre Adern rauschte. Ihre schwarzen Haare flatterten wie eine vom Sturm zerrissene Fahne hinter ihr her und verdeckten für einen Wimpernschlag den Weg, als sie zurückblickte. Jeder Atemzug wälzte sich brennend durch ihre Lungen, und die Luft wurde knapp. Sie konnte nicht weiter, konnte nicht ewig so panisch davonrennen. Es schien doch niemand hinter ihr zu sein, und Tahuna stoppte ihren Lauf. Schweratmend stützte sie ihre Hände an einen bemoosten Baumstamm ab, der sich feucht und weich in ihre Handflächen schmiegte. Sie hielt den Kopf gesenkt und versuchte verzweifelt, die übermächtige Angst aus ihrem Verstand zu bannen. Es konnte unmöglich wahr sein, was gerade geschehen war. Ein einziger Augenblick hatte ihr ganzes Glück zerstört. Eben hatte sie noch mit Lanea zusammengesessen und darüber gelacht, dass sie bald den begehrtesten jungen Krieger des Dorfes heiraten würde und dann, einen Augenblick später, fand sie ihren Vater ermordet. Ermordet von einem Handlanger Bairanis. Die kalte Erkenntnis, dass dies auch der Grund für das Unwohlsein ihres Vaters gewesen sein musste, griff nach ihrem Herzen und bohrte sich wie ein Messer hinein. Ihr Vater hatte es gewusst …

Tahuna wischte sich die Tränen aus den vor Kummer fast schwarzen Augen und blickte hoch.

Sie musste zu Kamun; sie musste ihm von dem Verrat und dem Mord an ihrem Vater berichten. Vielleicht waren ja noch andere Seher in Gefahr.

Erleichtert darüber, endlich wieder einigermaßen klar denken zu können und eine Entscheidung getroffen zu haben, löste sie sich von dem Baum und drehte sich um.

Das Letzte was sie sah, war das kalte Funkeln von Metall im Sonnenlicht, bevor es sich mit tödlicher Präzision in ihr Herz bohrte und alle Überlegungen für immer auslöschte.

 

*

 

Lanea fühlte sich trotz der vor ihr liegenden Ungewissheit glücklich, während sie ihre Schritte durch das Dorf auf den Strand lenkte. Sie freute sich über alle Maßen für Tahuna; ihre Freundin hatte gestrahlt und sie einfach in ihr Glücksgefühl mit hineingerissen. Es war nur sehr bedauerlich, dass sie bei den Feierlichkeiten nicht mehr dabei sein würde. Ihr Vater hatte sich unmissverständlich ausgedrückt. Die Tsunami würde bereits beim nächsten Sonnenaufgang in See stechen, und sie musste noch heute ihr Quartier an Bord beziehen.

Die Verabschiedung von ihren Eltern war erschreckend schnell gegangen, doch sie war auch dankbar dafür. Lanea hasste rührselige Momente und ging ihnen gerne aus dem Weg. Trotzdem hatte sie verwundert bemerkt, wie ihre Eltern ungeduldig auf ihren schnellen Aufbruch bestanden hatten.  Das aufdringliche Gefühl, abgeschoben zu werden, hatte sich ihrer bemächtigt und nicht mehr losgelassen. Die Anweisungen ihres Vaters waren kurz und knapp gewesen und hatten mehr Fragen aufgeworfen als sie zu beantworten.

Vor der Hütte, in der Tahuna und ihr Vater wohnten, hielt Lanea kurz an. Sollte sie hineingehen und Tahuna noch einmal Lebewohl sagen? Aber alles schien ruhig und vermittelte den Eindruck, als wäre niemand da. Eigentlich hatten sie sich ja bereits verabschiedet und eine weitere Begegnung würde ihnen beiden nur unnötig das Herz schwer machen. Sie seufzte, griff ihren Sack, in den sie ihre wenigen Habseligkeiten gestopft hatte, fester und ging weiter.

Die Tsunami lag ruhig in der kleinen Bucht vor Anker und schien nur auf sie zu warten. Zwei Seeleute standen neben einem Beiboot, das ein Stück auf den Strand gezogen worden war, und warteten tatsächlich auf sie.

Als die Männer Lanea entdeckten, griffen sie nach dem Boot und zogen es zurück in das Wasser, das mit sanften Wellen den zaghaften, aber konstanten Versuch wagte, das Boot am Ufer festzuhalten.

„Auf geht’s Lanea“, murmelte sie vor sich hin und versuchte, ihren sinkenden Mut zu ignorieren, als sie auf die Männer zuging.

 

*

 

Am nächsten Morgen betrat Stephen Stout mit lässigem Schritt die Höhle des Obersten Sehers, der ihm bereits mit hochgezogenen Augenbrauen entgegensah und den Mund in einer merkwürdig ungeduldigen Geste verzog.

Stout verneigte sich ehrfürchtig, als er in angemessener Distanz vor dem alten Mann stehenblieb.

„Seid gegrüßt, Oberster Seher!“

Bairani neigte wohlwollend den Kopf und deutete mit seinen langen Fingern auf ein paar Stühle, die an einer Seite der Höhle in einer mit kunstvoll gefertigten Decken verzierten Nische standen. Weißes Sonnenlicht, das durch eine von Menschenhand geschaffene Öffnung fiel, warf seinen großzügigen Schein auf die bunten Muster, die verschiedene Szenen aus den Legenden um die Göttin Thethepel darstellten, und erfüllten sie mit unwirklichem Leben. Eine Decke, die größer als die anderen war, wurde von nur einem einzigen überdimensionalem Bild geziert, auf dem die Göttin selbst mit hoch erhobenen Armen auf dem Meer stand, ihre roten Haare züngelten dabei wie Flammen um ihren Kopf, und vor ihr erhob sich ein feuerspeiender Vulkan aus den sie umgebenden Fluten. Die Erschaffung Waidamis! Stout hätte sich gerne die anderen Szenen angesehen, gehorchte jedoch dem Wink Bairanis und setzte sich. Der Oberste Seher setzte sich würdevoll in den Stuhl gegenüber. Mit einer betont sorgsamen Geste legte er seine dürren Hände, die vom Alter gezeichnet waren, auf die Lehnen und lächelte Stout mit einem aufmunternden Lächeln an, das den Piraten gezielt darauf hinwies, wie dünn sein Lebensfaden war, wenn er jemals etwas Falsches antworten würde.

„Sprich, mein Sohn! Konntest du meinen Auftrag erfüllen?“

Stephen nickte langsam.

„Ja, Oberster Seher. Ich habe Ronam und seine Tochter ohne Probleme beseitigt. – Vielleicht interessiert es Euch, dass Tamaka und Nahila diese Nacht Waidami verlassen haben. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob nicht einer von ihnen mich vielleicht im Dorf gesehen hat.“ Stout knurrte die letzten Worte voller Groll, hasste er doch den Gedanken, dass ihm möglicherweise ein Fehler unterlaufen sein konnte.

Bairanis mitleidlose Augen musterten den Piraten eine endlos lange erscheinende Zeit, ohne eine Spur von einer menschlichen Regung zu zeigen. Kalter Schweiß lief Stouts Rücken hinab und hinterließ dabei ein Gefühl des Unbehagens. Wieder einmal fragte er sich, was der Mann alles sah, und ob er auch dazu in der Lage war - oder einer seiner Seher - zu erkennen, was er dachte. Stout zwang sich, ungerührt zu erscheinen. Glücklicherweise konnte er von Sehern keine Strömungen empfangen. Er wollte nicht wirklich spüren, was in diesem Mann vorging. Wenn er, Stout, auch nicht gerade zart besaitet war und sicher genug schändliche Tat begangen hatte, jagte ihm der Oberste Seher doch eine unbekannte Angst ein. Er war gnadenlos, kompromisslos und würde seine eigene Tochter foltern, wenn ihm das zum Vorteil gereichen würde. Seine Strömungen mussten sämtliches Vorstellungsvermögen sprengen, wie eine bis unter den Mast mit Schießpulver beladene Galeone.

Die sonst eher tot scheinenden Augen Bairanis waren von unheilvollem Leben erfüllt und glänzten tückisch in seinem faltigen Gesicht, als sich sein schmaler Mund zu einem boshaften Lächeln verzog.

„Nun, Stephen, ich denke, ich muss dir etwas erklären, und dann habe ich da noch einen Auftrag für dich, der dich inspirieren dürfte.“

Er legte eine Pause ein, in der er Stout erneut taxierte, dann berichtete er von der letzten Sichtungszeremonie. Er berichtete, dass endlich der Piratenkapitän identifiziert worden war, der entweder zum Verräter oder zum tödlichen Instrument gegen die Spanier werden würde, und ignorierte dabei die sichtliche Erregung, die Stout ergriff, als er den Namen Jess Morgans vernahm. Er erzählte, warum er Lanea an Bord der Monsoon Treasure gesandt hatte, und dass Ronam hatte verschwinden müssen, weil er inzwischen zu kritisch geworden war. Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, erhob sich Bairani langsam aus dem Stuhl. Er verschränkte die Hände wie zu einem Gebet ineinander und ging nachdenklich durch den Raum. Vor der Fensteröffnung blieb er stehen und blickte versonnen in den Dschungel, der an dieser Seite den Vulkankrater herauf kroch wie eine grüne Schlange, und tat so, als lausche er hingebungsvoll den unschuldigen Geräuschen, die von dort zu ihm herauf drangen. Dann wandte er sich scheinbar selbstvergessen wieder an Stout, der ihn starr beobachtete und seine Finger wie eiserne Krallen um die Lehnen seines Stuhles geklammert hatte.

„Nahila ist unwichtig und um Tamaka kümmerst du dich bei Gelegenheit. Er weiß wesentlich mehr, als er immer zugegeben hat, und er scheint seine eigenen Pläne zu haben. Da nicht klar ist, welche Rolle Lanea in dieser Vision spielt, kann ich ihr nicht vertrauen. Es ist also vorrangig, dass du die Suche nach der Monsoon Treasure aufnimmst.“

„Wieso wissen wir nicht, wohin die Tsunami gesegelt ist? – Dort wird schließlich auch Jess Morgan sein, wenn Tamaka Captain Makani dorthin geschickt hat.“

„Tamaka war schlau genug, Lanea zu raten, Captain Makani ihren Bestimmungsort erst auf offener See zu eröffnen.“ Bairani ging mit wenigen Schritten zu Stout und legte ihm eine eiskalte Hand auf die Schulter, die den hartgesottenen Piraten erschauern ließ.

„Finde Jess Morgan für mich, Stephen!“

Stephen Stout knurrte erwartungsvoll.

Jess Morgan also! Das war eine interessante Neuigkeit, die Bairani ihm eröffnet hatte. Im Stillen rieb er sich zufrieden die Hände. Seit er zurückdenken konnte, hatte er diesem Kerl mit Misstrauen gegenübergestanden; bereits als er noch als kleiner Junge bei Bairani seine Vorbereitungszeit verlebt hatte, war Jess ihm als widerspenstig und rebellisch aufgefallen. Er hatte sich immer geweigert, sich unterzuordnen. Bairani hatte ihm verboten, in seiner wenigen freien Zeit, die ihm zur Verfügung stand, an den Strand zu gehen, und doch hatte er es immer wieder getan und dabei diesen seltsamen Glanz in den Augen gehabt. Selbst als ihn Bairani zur Strafe durch ihn, Stephen, hatte verprügeln lassen, hatte er noch geheimnisvoll gelächelt. Das Lächeln war erst verschwunden, als er den damals zehnjährigen Jungen ausgepeitscht hatte; aber der Glanz in seinen Augen war unverändert geblieben.

Stephen hatte ihn für diesen ungeahnten Widerstand gehasst. Jess hatte ihn trotzig angesehen, während er kaum noch in der Lage gewesen war, auf seinen eigenen Beinen zu stehen. Er war vor ihm auf die Knie gesunken und hatte ihn aus brennenden Augen angesehen. „Eines Tages werden wir uns ebenbürtig gegenüberstehen“, hatte der Junge leise gesagt. Er hatte mit den Tränen gekämpft, aber das Zittern in seiner  Stimme hatte dennoch nicht über die deutliche Drohung darin hinwegtäuschen können. Und Stephen Stout sah diese Drohung immer wieder aufs Neue in den eisblauen und mitleidlosen Augen, wenn er Jess Morgan begegnete. Ein sicheres Versprechen, das es irgendwann einzulösen galt, obwohl Morgan sich eigentlich nach der Tätowierung nicht mehr daran erinnern durfte, da diese alles aus dem Gedächtnis löschte, was jemals zuvor geschehen war.

Jahre später waren sie sich bei einem Überfall auf eine kleine Küstenstadt begegnet, an der sie beide beteiligt gewesen waren. Stout dachte hasserfüllt daran, wie er auf dem Marktplatz einen Mann hatte foltern lassen, um von ihm zu erfahren, wohin die Einwohner ihre Wertsachen geschafft hatten. Der Mann hatte am Ende noch nicht einmal mehr die Kraft gehabt, seine Qualen in die Welt zu schreien, als Jess Morgan erschienen war. Er war in seiner arroganten Art über den Platz marschiert, hatte sein Messer gezogen und dem Spaß, den er und seine Männer bis dahin gehabt hatten, mit einem glatten Schnitt ein viel zu plötzliches Ende bereitet und den Mann von seinen Qualen erlöst.

Wenn er von Bairani freie Hand bekäme, würde er Jess Morgan jagen, und dieser würde am eigenen Leibe erfahren, wie sehr er es genoss, einen Mann langsam sterben zu sehen; für ihn würde er sich etwas ganz Besonderes ausdenken und ihm beweisen, dass er äußerst kunstfertig in der Lage war, einen Mann tagelang leiden zu lassen.

Er erwachte aus seinen Gedanken wie aus einem Traum, dabei traf sein Blick auf den hämischen Gesichtsausdruck des Obersten Sehers.

„Mir scheint, dass du den nötigen Jagdtrieb für diesen Auftrag besitzt.“

„Soll ich ihn töten?“

„Nein, auf keinen Fall! – Zuerst wirst du ihn nur beobachten. Ich will wissen, ob er sich nun von uns abgewandt hat oder nicht. Solltest du den Beweis für einen Verrat finden …“, Bairanis Augen funkelten ihn gefährlich an, „… dann bring ihn hierher. Was du unterwegs mit ihm anstellst, ist mir völlig gleichgültig, - solange du ihn in einem Zustand von einigermaßen kräftiger, körperlicher Verfassung ablieferst. Das, was ich mit ihm dann vorhabe, wird seine ganze Kraft kosten. Glaube mir, Stephen, er wird mehr Qualen erdulden, als irgendjemand vor ihm – und sie werden nicht nur körperlicher Art sein.“ Bairani lächelte auf eine sadistische Weise, die Stout das Gefühl vermittelte, dass er noch in den langerwarteten Genuss seiner Rache kommen würde. Er wusste, wie grausam Bairani war, und er leckte sich voller Vorfreude über die wulstigen Lippen.

„Das Mädchen! Was passiert mit dem Mädchen?“

„Bring sie unversehrt hierher. Die Götter halten auch für sie ihr Schicksal bereit.“ Der Oberste Seher wechselte einen geheimnisvollen Blick mit Sagan, der sich die ganze Zeit schweigend in den Schatten der Höhle aufgehalten hatte; ein stolzes Lächeln quittierte diesen vertrauensvollen Blickwechsel.

„Verabschiede dich jetzt, mein Sohn. Das Auge der Göttin wird dich wohlwollend auf deinem Weg beobachten.“ Bairanis Lächeln hatte etwas Strahlendes, doch die Augen blickten wieder völlig leblos auf Stout, der sich vor ihm verbeugte und dann die Höhle verließ.

 

Als Stouts Schritte verklungen waren, wandte sich Bairani an Sagan, der nun zögernd wie ein verängstigter Hund aus der Nische trat.

„Veranlasse, dass im Dorf das Gerücht gestreut wird, Tamaka habe Ronam und seine Tochter getötet und wäre deshalb noch in der Nacht geflüchtet.“

Sagan beeilte sich, zu nicken, und rannte davon, um den Auftrag seines Herrn auszuführen.

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